Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 29.1911-1912

DOI article:
Zu einigen Blättern aus Hans Böhlers ostasiatischer Studienmappe
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.7012#0446

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
HANS BÖHLER —WIEN. Zeichnung: »Chinesische Courtisane«

ZU EINIGEN BLÄTTERN AUS HANS BÖHLERS
OSTASIATISCHER STUDIENMAPPE.

\7"on einer leidenschaftlichen Schaulust und
' dem Verlangen getrieben, noch nicht ge-
sehene oder selten gesehene Wirklichkeiten der
Welt zeichnerisch und malerisch wiederzugeben,
reiste Hans Böhler in dreizehntägiger ununter-
brochener Schnellzugsfahrt über Moskau, Char-
bin und Mukden nach China, Korea und Japan.
Eine leise Stimme heimlicher Skepsis warnte
ihn: du kennst ja doch all' das schon, hast da-
von vernommen, in Büchern darüber gelesen,
in Mappen das Charakteristische schon abge-
bildet gesehen. Du wirst enttäuscht sein, denn
das Ostasien, das du durch die Kunst kennst,
existiert in Wirklichkeit gar nicht. Es gibt dort
nicht die erwartete Fülle malerischer Erschei-
nungen von bald schöner, bald anmutiger oder
grotesker Phantastik, sondern nur eine ebenso
gewöhnliche und abgenützte Wirklichkeit wie
bei uns. Bleibe hier und erwarte Imaginationen.
Aber Hans Böhler, dem die Wirklichkeit wun-
dervoll genug dünkt, der noch nie ein visionär
erschautes Gebilde gemalt hat, eben deshalb,
weil ihn die natürlichen Sichtbarkeiten der
Welt in ihrer unendlichen Vielfältigkeit mit
großem Staunen, ja fast panischem Schreck
erfüllen, reiste dennoch. Er sah dann, was er

aus Bilderwerken bereits kannte: die engen
Gassen chinesischer Städte mit den kleinen,
zierlichen Häusern in Gold, Grün, Schwarz und
ein wenig Rot. Er erkannte die seilsam ge-
schwungenen Giebel, die phantastisch ge-
schnitzten Türme, die kleinen gelbhäutigen
Menschen in ihrer einfachen und bequemen
Gewandung aus roher und blau oder schwarz
gefärbter Seide, und erschrak fast vor ihrem
Anblick, da er sie nun in Wirklichkeit sah, weil
ihn der Anblick so ganz anders traf, als er
vermutet hatte. Die Wirklichkeit ist eben
immer ein großes Wunder, wohl das größte.
Vielleicht hat darum Chesterton Recht, wenn
er sagt, eine künstlerisch gestaltete Ungeheuer-
lichkeit ist kein Zeichen von Phantasie, son-
dern ein Zeichen des Verfalls der Phantasie;
denn nur wenn der Mensch wirklich aufgehört
hat ein Pferd zu sehen, wie es ist, erfindet er
einen Zentauren; nur wenn er sich nicht mehr
über einen Ochsen zu wundern vermag, betet
er den Teufel an. Und Teufelsbeschwörung ist
bloß das Reizmittel erschöpfter Phantasie —
sie gleicht dem Schnapstrinken des Künstlers.
— Hans Böhler sah sich also einer erstaun-
lichen Wirklichkeit gegenüber und fand sich da-

439
 
Annotationen