Blätter aus Hans Bölilers ostasiatischer Studienmappe.
H. BÖHLER WIEN. Zeichnung: »Chinesisches Mädchen«
punkten wertet und gewertet haben will. Man
würde daher dem Künstler Unrecht tun, wenn
man seine Aquarelle, Bleistift-, Tusch-und Feder-
zeichnungen ausschließlich als Darstellungen exo-
tischer Erscheinungen, statt hauptsächlich als
Manifestationen künstlerischer Impressionen be-
urteilen wollte. Böhlers Blätter käme nur die
relative Bedeutung unkünstlerisch interessanter
Darstellung exotischer Dinge zu, wenn man sie
nur auf die Ungewöhnlichkeit des Gegenständ-
lichen hin betrachten und beurteilen würde, nicht
aber die absolute Bedeutung, die dem künstleri-
schen Werke eignet. Nun sind aber Böhlers Ja-
pan- und Chinastudien zu kunstwertigen Expres-
sionen umgewandelte Eindrücke, und zwar sehr
reizvolle Hervorbringungen einer nicht alltägli-
chen künstlerischen Begabung, die noch nicht Ge-
sehenes und schon oft Gesehenes in einer Form
darzustellen vermag, die selbst dem Gesehenen
einen neuen Reiz verleiht. Des jungen Künstlers
wacher und klarer Intellekt war sich bewußt,
daß das Ostasien, wie es uns durch seine eigene
Kunst bekannt ist, nichts anderes als die
Schöpfung ganz bestimmter Künstler und deren
Schüler ist, daß China und Japan köstliche
Einbildungen der Kunst sind. Er spähte da-
her in Japan nicht nach den Wirkungen der
in Europa gesehenen japanischen Holzschnitte
aus, sondern nach der Gelegenheit zur Wahr-
nehmung individueller Phänomene der Gesichts-
sinnlichkeit. Er schaute mit eigenen Augen,
und was er mit seinen Augen, den echten
Augen des Künstlers, die bis an der Wimpern
Rand den goldenen Überfluß der Welt in sich
trinken wollen, sah, das, in einer subtilen, aus
dem Gegenstand selbst gewonnenen Tech-
nik darzustellen, war er bemüht. Mit Erfolg.
In China hatte er mit der landesüblichen ge-
ringen Achtung vor dem Maler zu kämpfen, so-
bald es sich darum handelte, in vornehme Chi-
nesenfamilien Eingang zu bekommen, denn in
China ist der Maler ein Handwerker, der eben-
so wie der Schuster oder Schneider seinen Ge-
schäftsladen offen an der Straße hält. Und noch
ein zweites Hindernis hatte er zu überwinden:
das Widerstreben der Frauen gegen das Por-
trätiertwerden. Jede Chinesin hegt nämlich
den Aberglauben, daß sie durch ein zweites
Ich, und dafür hält sie ihr Bildnis, verzaubert
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H. BÖHLER WIEN. Zeichnung: »Chinesisches Mädchen«
punkten wertet und gewertet haben will. Man
würde daher dem Künstler Unrecht tun, wenn
man seine Aquarelle, Bleistift-, Tusch-und Feder-
zeichnungen ausschließlich als Darstellungen exo-
tischer Erscheinungen, statt hauptsächlich als
Manifestationen künstlerischer Impressionen be-
urteilen wollte. Böhlers Blätter käme nur die
relative Bedeutung unkünstlerisch interessanter
Darstellung exotischer Dinge zu, wenn man sie
nur auf die Ungewöhnlichkeit des Gegenständ-
lichen hin betrachten und beurteilen würde, nicht
aber die absolute Bedeutung, die dem künstleri-
schen Werke eignet. Nun sind aber Böhlers Ja-
pan- und Chinastudien zu kunstwertigen Expres-
sionen umgewandelte Eindrücke, und zwar sehr
reizvolle Hervorbringungen einer nicht alltägli-
chen künstlerischen Begabung, die noch nicht Ge-
sehenes und schon oft Gesehenes in einer Form
darzustellen vermag, die selbst dem Gesehenen
einen neuen Reiz verleiht. Des jungen Künstlers
wacher und klarer Intellekt war sich bewußt,
daß das Ostasien, wie es uns durch seine eigene
Kunst bekannt ist, nichts anderes als die
Schöpfung ganz bestimmter Künstler und deren
Schüler ist, daß China und Japan köstliche
Einbildungen der Kunst sind. Er spähte da-
her in Japan nicht nach den Wirkungen der
in Europa gesehenen japanischen Holzschnitte
aus, sondern nach der Gelegenheit zur Wahr-
nehmung individueller Phänomene der Gesichts-
sinnlichkeit. Er schaute mit eigenen Augen,
und was er mit seinen Augen, den echten
Augen des Künstlers, die bis an der Wimpern
Rand den goldenen Überfluß der Welt in sich
trinken wollen, sah, das, in einer subtilen, aus
dem Gegenstand selbst gewonnenen Tech-
nik darzustellen, war er bemüht. Mit Erfolg.
In China hatte er mit der landesüblichen ge-
ringen Achtung vor dem Maler zu kämpfen, so-
bald es sich darum handelte, in vornehme Chi-
nesenfamilien Eingang zu bekommen, denn in
China ist der Maler ein Handwerker, der eben-
so wie der Schuster oder Schneider seinen Ge-
schäftsladen offen an der Straße hält. Und noch
ein zweites Hindernis hatte er zu überwinden:
das Widerstreben der Frauen gegen das Por-
trätiertwerden. Jede Chinesin hegt nämlich
den Aberglauben, daß sie durch ein zweites
Ich, und dafür hält sie ihr Bildnis, verzaubert
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