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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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Zahn, Leopold: Vom Wechselspiel der Gotik und Klassik in der modernen Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0100

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ganzen künstlerischen Entwicklung bis zu dem Zeitpunkte, wo sie durch
den Einfluß der italienischen Renaissance unterbrochen wurde, und in späterer
Zeit wieder in dem Maße, als sie sich von diesem Einfluß emanzipierte, an#
gesehen werden kann.« Die »willkürliche Konstruktion« Worringers, von
der Dvorak sagt, daß sie »dem komplizierten historischen Sachverhalt gegen#
über noch phantastischer ist als die abstrakten Stilbegriffe der Romantiker«,
erfuhr eine weitgehende Übertreibung in dem Buche Karl Schefflers (»Der
Geist der Gotik«, Leipzig 1917), das in der Kunst fast aller Epochen und
Nationen eine »heimliche Gotik« bloßlegt, und in der uns heute ganz un#
verständlichen Behauptung gipfelt: »Der Impressionismus ist die letzte Form
des gotischen Geistes, die bisher erkennbar war«. Gerechtfertigter will es
uns auch heute noch erscheinen, wenn Worringer (in einem Aufsatz des
Kestner#Buches 1920) im Kubismus einWiederaufleben der Gotik erblickt,
aber auch diese Interpretation ist Symptom einer Einseitigkeit, auf die der
dialektische Rückschlag nicht ausbleiben konnte.
Und er blieb nicht aus. Der Krieg, in dessen letzte Jahre der Sieg der expres#
sionistischen Gotik fiel, war zu Ende, als das Gerücht von der »klassizistischen«
Apostasie Picassos das ungläubige Ohr unserer gotikseligen Expressionisten
traf. Ingres — der neue Gott? Wir konnten, wir wollten es nicht glauben.
Aber siehe: in der Zeit, die seither verflossen ist, haben auch wir eine Wand#
lung durchgemacht, die uns einen neuen Klassizismus zum mindesten als
Möglichkeit zukünftiger Kunstentwicklung erscheinen läßt. So beginnt man
— um nur ein Symptom unter vielen zu nennen — überall »heimliche Klassik«
zu wittern. Der Kubismus, gestern noch als eine Resurrektion gotischen
Geistes ausgegeben, gilt heute als Vorschule des Klassizismus. Die deutschen
Klassizisten Carstens, Genelli und Cornelius kommen zu neuen Ehren. Und
die Künstler selbst? Von Picassos klassizistischer Wandlung haben wir
bereits gesprochen, aber auch in Deutschland machen sich Anzeichen einer
Beruhigung und Klärung bemerkbar. Das Abstraktionsbedürfnis läßt nach,
eine erneute Auseinandersetzung mit der »objektiven« Naturform beginnt.
Eine nähere Aussage wäre heute verfrüht, nur so viel wird man, ohne der
Entwicklung vorzugreifen, sagen können: retrospektiv ist dieser Klassizismus
nicht gewandt. Die archeologische Attitüde fehlt ihm vollständig und auch
das romantische Sehnsuchtsmotiv des historischen Klassizismus. Vom ex#
pressionistischen Erbe wird die metaphysische Einstellung übernommen. Die
impressionistische »peinture« wird vollständig untergehen: Wir müssen auf
eine durchaus plastisch#zeichnerische Malerei gefaßt sein.


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