FUNKEN
WÜRDIGUNGEN
HULDIGUNG FÜR GEORG BRANDES.
Es gibt auf dieser Welt eine schlechte Gewöhn*
heit, eine Gewohnheit, so alt, daß sie zeitlos ist,
von der wir aber ebenso befallen sind, wie
andere Generationen und andere Jahrhunderte,
und von der gewiß auch jene nicht geheilt sein
werden, die nach uns kommen. Diese schlechte
Gewohnheit besteht darin, sich über seine eigene
Zeit zu beklagen, über die Epoche, deren Zeuge
man ist und gegen die man den chronischen
Vorwurf erhebt, daß sie unfruchtbar sei. Ein
einziges Beispiel genügt, um diese unheilvolle
Gewohnheit zu kennzeichnen: ich meine die
ewigen Klagen über den Verfall der Literatur
und Kunst »unserer« Zeit. Schon Dostojewski
hat die scharfsinnige Beobachtung gemacht, daß
er während der vierzig Jahre seiner Schrift*
stellerlaufbahn nur allzuoft sagen hörte:
»Zu unserer Zeit, wo die Literatur sich in sol*
ehern Niedergange befindet!« Oder: »In unserer
Zeit, in der die Kunst so alltäglich wurde!...«
»Und doch,« fügt Dostojewski bei, »wenn ich
meine Blicke auf die letzten vierzig Jahre meines
Lebens zurückschweifen lasse, bemerke ich, daß
wir während dieser Zeit die größten Schrift*
steiler und Dichter unseres Landes unser Eigen
nannten: Gogol, Turgenjev, Gontscharow, Toi*
stoi, Aksakov, Pissemski...« Und er hätte seinen
eigenen Namen beifügen können: Dostojewski.
Wir könnten ähnliche Jeremiaden ebenso in
Frankreich, in Deutschland, in England, in Polen
und bei den Juden finden und hervorheben, —
mit einem Wort überall, wo Literatur und Kunst
Bürgerrecht genießen. Und überall könnten wir,
wie Dostojewski für Rußland, große Namen
finden, die gerade aus den der Unfruchtbarkeit
beschuldigten Epochen hervorgingen. Namen,
die diese Vorwürfe zunichte machen. Die Leser
und jene, die die Leser am Laufenden erhalten
— die Kritiker — leiden nicht an Kurzsichtigkeit,
wohl aber sind sie unheilbar weitsichtig: sie er*
blicken das Große nur aus Ferne und werden
von der Größe des Gedankens, oder von der
Schöpfung einer Zeit nur dann geblendet, wenn
diese schon vielmehr der Geschichte als dem
Leben angehört. Zum Glück können wir in die*
ser, wie in jeder anderen Hinsicht, einige Aus*
nahmen vermerken, aber wie viele unter unseren
Literatur* und Kunstrichtern würden es denn,
ganz allgemein besehen, wagen, wünschen und
wollen, ihre Stimme zugunsten eines ganz jun*
gen Dichters oder Musikers zu erheben, ohne
der Unterstützung und des Beifalls der Leser
sicher zu sein — diese Kritiker und Leser, die
so prachtvoll (oder trostlos?) an die Gestalten
der mittelalterlichen »Farce de Patelin« mit ihren
unzähligen Agnelets (Agnelet kommt von Ag*
neau [Lamm], emahnen, an dieses unvergleich*
liehe Meisterwerk aus der Zeit Lud wig XI., das so
gut auf unser Jahrhundert mit seinen schamlosen
Betrügern und seinen schwatzhaften, aber des
Pathos entbehrenden Betrogenen, paßt!
Da nun aber jede Regel von der Ausnahme be*
stätigt wird, so gereicht es zu großer Freude,
eine von diesen und zwar die größte, hervor*
zuheben: den achtzigjährigen Brandes.
Wie fast keiner sonst, hatte er stets die Witte*
rung und den guten Willen, seine Zeitgenossen
zu entdecken und zu grüßen, sie zu studieren,
sie nach ihrem wahren Wert einzuschätzen und
all seine Mittel eines großen Schriftstellers ans
Werk zu setzen, um jene bekannt zu machen.
Selten hatte ein Literaturhistoriker die Fähigkeit,
über seine Zeitgenossen so gerecht zu schreiben,
sie so gerecht mit den vergangenen Generationen
zu vergleichen, wie der unermüdliche Verfasser
von »Menschen und Werke«. Wie die Frau aus
der Bibel, die in ihrem Schoß schon, jene We*
sen miteinander im Kampf fühlte, welche später
die erwählten und die dem Unglück geweihten
Völker gebaren, fühlte der Meister, den wir jetzt
feiern, wie Renan es von Lamennais sagte, in
seiner Brust unaufhörlich ganze Jahrhunderte
zusammenprallen und in Berührung kommen
mit seiner eigenen Zeit. Und mit dem unsicht*
baren Instrument, dessen sich der Historiker
bedient, um sich die Jahrhunderte näher zu
bringen, studierte er die vergangenen Zeiten;
und mit dem Thermometer seines kritischen
Geistes maß er die Leidenschaften der Gene*
rationen, deren beredter Zeuge er war und bleibt,
— ein Zeuge, der die Wunde seiner Zeit in sich
trägt. Der seinen und der unsern.
Wie: Und der unsern?
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WÜRDIGUNGEN
HULDIGUNG FÜR GEORG BRANDES.
Es gibt auf dieser Welt eine schlechte Gewöhn*
heit, eine Gewohnheit, so alt, daß sie zeitlos ist,
von der wir aber ebenso befallen sind, wie
andere Generationen und andere Jahrhunderte,
und von der gewiß auch jene nicht geheilt sein
werden, die nach uns kommen. Diese schlechte
Gewohnheit besteht darin, sich über seine eigene
Zeit zu beklagen, über die Epoche, deren Zeuge
man ist und gegen die man den chronischen
Vorwurf erhebt, daß sie unfruchtbar sei. Ein
einziges Beispiel genügt, um diese unheilvolle
Gewohnheit zu kennzeichnen: ich meine die
ewigen Klagen über den Verfall der Literatur
und Kunst »unserer« Zeit. Schon Dostojewski
hat die scharfsinnige Beobachtung gemacht, daß
er während der vierzig Jahre seiner Schrift*
stellerlaufbahn nur allzuoft sagen hörte:
»Zu unserer Zeit, wo die Literatur sich in sol*
ehern Niedergange befindet!« Oder: »In unserer
Zeit, in der die Kunst so alltäglich wurde!...«
»Und doch,« fügt Dostojewski bei, »wenn ich
meine Blicke auf die letzten vierzig Jahre meines
Lebens zurückschweifen lasse, bemerke ich, daß
wir während dieser Zeit die größten Schrift*
steiler und Dichter unseres Landes unser Eigen
nannten: Gogol, Turgenjev, Gontscharow, Toi*
stoi, Aksakov, Pissemski...« Und er hätte seinen
eigenen Namen beifügen können: Dostojewski.
Wir könnten ähnliche Jeremiaden ebenso in
Frankreich, in Deutschland, in England, in Polen
und bei den Juden finden und hervorheben, —
mit einem Wort überall, wo Literatur und Kunst
Bürgerrecht genießen. Und überall könnten wir,
wie Dostojewski für Rußland, große Namen
finden, die gerade aus den der Unfruchtbarkeit
beschuldigten Epochen hervorgingen. Namen,
die diese Vorwürfe zunichte machen. Die Leser
und jene, die die Leser am Laufenden erhalten
— die Kritiker — leiden nicht an Kurzsichtigkeit,
wohl aber sind sie unheilbar weitsichtig: sie er*
blicken das Große nur aus Ferne und werden
von der Größe des Gedankens, oder von der
Schöpfung einer Zeit nur dann geblendet, wenn
diese schon vielmehr der Geschichte als dem
Leben angehört. Zum Glück können wir in die*
ser, wie in jeder anderen Hinsicht, einige Aus*
nahmen vermerken, aber wie viele unter unseren
Literatur* und Kunstrichtern würden es denn,
ganz allgemein besehen, wagen, wünschen und
wollen, ihre Stimme zugunsten eines ganz jun*
gen Dichters oder Musikers zu erheben, ohne
der Unterstützung und des Beifalls der Leser
sicher zu sein — diese Kritiker und Leser, die
so prachtvoll (oder trostlos?) an die Gestalten
der mittelalterlichen »Farce de Patelin« mit ihren
unzähligen Agnelets (Agnelet kommt von Ag*
neau [Lamm], emahnen, an dieses unvergleich*
liehe Meisterwerk aus der Zeit Lud wig XI., das so
gut auf unser Jahrhundert mit seinen schamlosen
Betrügern und seinen schwatzhaften, aber des
Pathos entbehrenden Betrogenen, paßt!
Da nun aber jede Regel von der Ausnahme be*
stätigt wird, so gereicht es zu großer Freude,
eine von diesen und zwar die größte, hervor*
zuheben: den achtzigjährigen Brandes.
Wie fast keiner sonst, hatte er stets die Witte*
rung und den guten Willen, seine Zeitgenossen
zu entdecken und zu grüßen, sie zu studieren,
sie nach ihrem wahren Wert einzuschätzen und
all seine Mittel eines großen Schriftstellers ans
Werk zu setzen, um jene bekannt zu machen.
Selten hatte ein Literaturhistoriker die Fähigkeit,
über seine Zeitgenossen so gerecht zu schreiben,
sie so gerecht mit den vergangenen Generationen
zu vergleichen, wie der unermüdliche Verfasser
von »Menschen und Werke«. Wie die Frau aus
der Bibel, die in ihrem Schoß schon, jene We*
sen miteinander im Kampf fühlte, welche später
die erwählten und die dem Unglück geweihten
Völker gebaren, fühlte der Meister, den wir jetzt
feiern, wie Renan es von Lamennais sagte, in
seiner Brust unaufhörlich ganze Jahrhunderte
zusammenprallen und in Berührung kommen
mit seiner eigenen Zeit. Und mit dem unsicht*
baren Instrument, dessen sich der Historiker
bedient, um sich die Jahrhunderte näher zu
bringen, studierte er die vergangenen Zeiten;
und mit dem Thermometer seines kritischen
Geistes maß er die Leidenschaften der Gene*
rationen, deren beredter Zeuge er war und bleibt,
— ein Zeuge, der die Wunde seiner Zeit in sich
trägt. Der seinen und der unsern.
Wie: Und der unsern?
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