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Heidelberger Zeitung (44) — 1902 (Januar bis Juni)

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Nr. 75-100 (1. April 1902 - 30. April 1902)
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^rscheint tüglich, Sonntags ausgcnommen. — Prcis mit Familienblättern monatlich 50 Pfg. in's Haus gebracht, bei der Expedition nnd den Zweigstellcn abgeholt 40 Pfg. Durch die Post be-

zogen vierteljährlich 1.35 Mk. ansschließlich Zustellgebühr.

nzeigenpreis: 20 Pfg. sür die Ispaltige Petitzeile oder deren Raum. Reklamezeile 40 Pfg. Für hiesige Geschäfts- und Privatanzeigen ermäßigt. — Für die Aufnahme von Anzeigen an bcstimm.
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Zweites Blertt.

Freitag, 4. April 1902.

44. Jahrgaag. — Ar. 78.

Aie Hrunksucht in Melgien und ihre Me-
kämpfung.

Lon unserem Antwerpener Korrespondcnten.

Ein Lhema, mit denl sich die betgische Presse seit
jzahreii immer wiedcr und wieder beschäftigt, ist die über
has ganze Land verbreitete entsetzliche Trunk -
lucht und trotzdem, daß dieses Thema so häufig er-
örtert und nach allen Richtungen breit getreten wird,
bteibt es doch zumat sür den hier Wohnenden, stets inteir-
essant. Hiefür sorgt schon der Umstand, daß die Blätter
alle Augenblicke von schrecklichen Verbrechen und Unglücks-
lallen zu berichten wissen, die auf den Alkohol zurück-
Luführen sind und die so fortwährend in einer oft ge-
radezu aufregenden Weise die Erinnerung an fenes
Grundiibel im belgischen Volksleben wachrufen vder
ausfrischen, und dieses freilich nichts weniger, als wohl-
wollende Jnteresse für das Laster der Trunksucht, seine
Hrsachen und Folgen, wird überhaupt beständig wachge-
balten durch den Anblick der allgemeinen Verrohung, die
ibeziell die unteren Schichten der Bevölkerung in immer
Üärkerem Maße ergreift, und die dem Fremden den
Aufenthalt in dem sonst so schönen, freien Belgien mit-
hnter förmlich verloiden kann. Diese Verrohung äußert
lich vor allem in der nichtswürdigen Beißhandlung der
Äere, die hier so häufig selbst auf offener Straße geschieht
hnd die empörendsten Szenen herbeiführt, sie äußert sich
lerner in der mitunter kanm glaublichen Verwildorung
stnd Zügellosigkeit ücr Fngend, und sie äußert sich endlich
ch der zunehmenden Respektlosigkeit vor der Obrigkeit, im
Abnehmen der Rechtschaffenheit bei den arbeitenden
^lassen nnd im Abnehmen des allgemeinen Anstandes,
öer Zucht und Sitte. Spezieü in letztgenannter Hinsicht
berrschen hicr vielfach Zustände, die man in Deutschland
für denkbar halten würde. Es sind nicht allein die
urbeiterfamilien, in denen die Kindor, fiir die ja hier
bekanntlich keinerlei Zwang existiert, so häufig ganz wild
^ud ohne jede Aufsicht aufwachsen. Es giebt auch bürger-
llche Familien genug, in denen die Eltern es apathisch ge-
ichehen lassen, daß die heranwachsenden Jungen oder
^iädchen sich bis in die Nacht auf eigene Faust nach Belie-
ben herumtreiben, daß der Herr Sohn oder das Fräulein
^-ochter schon mit 16 oder 17 Jahren ein Vorhältnis unter-
bält, bei dem an eine spätere Verheiratung im Ernste
chohl schwerlich gedacht wird. Natürlich wird dann das
betrefsende junge Mädchen, das seinen „Freier" oder
'-Cavalier" auch nach dem Wirtshause begleitet, dort auch
^ei Zeiten mit dem Genever bekannt und es gewöhnt "
?ort auch an die oft mehr als zwangslosen Reden
lnesigen männlichen Jugend, woraus sich denn auch
M Thatsache orklärt, daß beim Absingen oder vielmehr
chäbrüllen der schändlichen Straßenlieder, die man auf
' lchstnacht, an Losungstagen und bei sonstigen Gelegen-
^iten hier mitanhören muß, sich weibliche Personen in oft
ü°ch sehr jugendlichem Alter regelmäßig besonders hervor-
chnri. Dieser Skandal ist allmählich so weit gediehen,
j'llß man jetzt ein besondores Gesetz zu erlassen beabsich-
Ät, durch welches das Singen schmutziger Lieder auf der
^chaße unter Strafe gestellt werden soll, ob indessen diese
m'sicht auch zur Zlusführung gelangen wird, das muß
'dstweilen abgewartet werden.

: .. Das alles 'sind Znstände, die gewiß die Behauptnng
^ ^chttertigen, daß das belgische Volk an einem bcdenklichen

Das Zirkuskind.

Romcm von Emma M er k.


(Fortsetzung.l

Tahla mochte dic Stimmc ihres klcincn Frcundcs von
erlannt habcn. llnwillkürlich warf sie cincn Blick in
^icfe. Man sah dic Gestalt schwanken, ein Händchen, wie
Lt'll snchend, in die Luft grcifen. — Ein Schrei aus eincm
r^'enmundc gcllte durch üen Raum. Man sprang entsetzt
tz?vr, man rtef durcheinandcr in der Verwirrung des
^"-'eckens. Wie ein krankes Vöglein, von den hcllen Röcken
Hin glitzernden Flügeln umflattcrt, war das Kind aus der
herabgestürzt.

v,^Zegnngslos, wic tot, lag cs in dem Sichcrheitsnetz, das
hgch" dcm Serlc gcspannt worden, mit den Händen noch krampf-
dcy, öas Wägelchen fcsthaltend, das Köpfchen fast verdeckt von
sih. "^sstgen, wild auseinander flutenden Haar. Jm Zu-
erranm entstand ein Drängen, Zanken, in das fich Kinder-
jfn mischte.

h,>,st^er Dircktor bat mit finstcrcm Gesicht ruhig auf dcn Plä-
st ' su blciben, dic Kleinc sci nnr ohnmächtig; die Vorstellung
^ ihrcn programmmätzigcn Verlauf nehmen.
stj stdclc war von cinem mächtigen Gefühl des Mitleids ge-
dvi, F' üder dic Rampe hcrabgesprnngen, die dic Sitzplätze
A'N Zirkus trennte und ftand neben der kleinen Ohn-
dqE'gen, als dcr zufällig anwesende Arzt sie aus dem Netze
"stund dic zarten Glieder prüfte.
dix^l'-Das .Kind mutz sofort in ein ordentliches Bett gebracht
" ""d bedarf längerer Pflegc," erklärtc er, zn dem Dirck-
«i,Z''''vendet, der seine üble Laune über den Vorfall nicht ver-
l>öü ""d nach dcm Clown, dcm Vater des Kindes, rief. Adele
^ össtige -Scheltworte; ein nngeduldiges Fluchen.

- * reiscn in zwei Tagen. Einc Krankenstübe habe ich
^lst mcinem Waaen. Du kannst dich znm Teufcl scheren
oein^ .

oliiem Csel und deinem Kind."

Grade der Verrohung und Verwilderung angelaugt ist,
und die Ursache hiervon ist allein oder doch in allererster
Linie im Genever zu suchen, dessen Konsum allen Gegen-
bestrebungen zum Trotze fortwährend in erschreckenden
Proportionen zunimmt. Dabei ist derselbe keineswegs
etwa das Levorrechtigte Getränke des starken Geschlechtes
geblieben. Wer sich heute an Soim- und Festtagen, an
denen der Bürger mit Weib und Kind auszugehen pflegt,
in den Estaminets umsieht, der wird dort die Entdeckung
machen, daß von den anweseiiden weiblichen Personen
der weitaus größere Teil Genever oder Cognac anstatt
Bier oder Kasfee vor sich stehen hat, und wer auf der
Straße auf Alles sein Augenmerk richtet, der wird unter
den ihm begegnenden Vetrunkenen sicher auch die eine
oder andere Vertreterin des schönen Geschlechts erblicken.
Nun besteht ja allerdings ein Gesetz, welches die öfsent-
tiche Betrunkenheit mit Strafe bedroht, aber dieses Ge-
setz wird nur selten Praktisch zur Anwendung gebracht,
wohl auch deshalb, weil die vorhandene Schutzmann-
schaft überhaupt nicht im Stande wäre, jeden ihr be-
gegnenden Trunkenbold zur Wache zu schleifen. Seit dem
Erlassen jenes Gesetzes, von dem man sich anfangs Wuir-
derdinge versprach, hat denn auch die Schnapspest noch
weiter nm sich gegriffen, ohne daß sich der Staat verantaßt
gesehen hätte, das Uebel nnnmehr auf eine andere Weise
zu bekämpfen, vor allem durch eine gründliche Ver-
teuerung des ihm gegenwärtig ca. 70 Millioneii pro Jahr
einbriiigenden Genevers. Aus diese Einnahme will und
kmm auch der staat nicht verzichten, und da dieser sich
also weigert, die Axt an die Wurzel des Uebels zu legen,
so hat man von anderer einflußreicher Seite aus es
miterncmimeii, wenigstens deni weiteren Umsichgreifen
des letzteren nach Kräften entgegenzutreten. Es wurden
Vereine zur Bekämpsung der Trunksucht gegründet, es
wurden Wärmehallen errichtet, in denen die Arbeiter sich
gratis aufhalten mid sich alkoholfreie Getränke zn billig-
sten Preisen verfchaffen komiten; in Gegcnden init nicht
ganz einwandfreiem Trinkwasser stellte nian die bel'ann-
ten, ein absolut keimfreies Wasser lieferndeii Filter der
Berkefeld-Filter-Gesellschaft in Celle aus, mn so der är-
meren Bevölkerung Gelegenheit zu verschaffeii, ohne Ge-
fahr für ihre Gesundheit ihren Durst mit Wasser stillen
zu kömien, man ließ ferner in Taufenden von Exempla-
ren Schriften und Bilder verbreiten, die drastisch die
Folgen der Trunksucht schilderten, kurzum, man ließ
nichts unversucht, wovon man sich irgendwelchen Erfolg
gegen die Ausbreitung jenes Lasters versprach. Von ver-
einzelten Fällen abgesehen, hat indessen diese Propaganda
bis dahin wemg oder vielmehr nichts geholfen. Das
llebel sttzt zu tief mid fest, als daß es mit solchen halben
Matzregeln ansgerottet werden könnte, und nur von einer
Verteuerung des Schnapses bis zu einem Preise, dessen
Erschwingnng für den kleinen Mami eine Umnöglichkeit
wäre, sowie von einer Beschränkung der Zahl der Esta-
minets wäre eine durchschlagende Wirkung zu erwarten.
Jn Belgien komint ein Estaminet auf je 36 Einwohner,
mid die Zahl der ersteren wächst noch immer, da diefes
Geschäft ohne weiteres ein Jeder betreiben darf, der die
Licenzsteuer von 100 Francs pro Jahr bezahlt. Während
in diesen Schnapsbuden der Arbeiter den größten Teil
seines Tagelohnes vergeudet, leidet seine Familie oft zu
Hause den bittersten Hunger, bis zuletzt häufig genug die
.üinder von der Frau zmn Bette-In oder zn noch Schlim-
merem ausgeschickt werdsn, mn Geld für Brot und für

Darauf kam dcr verstörte, vor Schrecken zitternüe Signor
Bianchina zum Borschein, ein dem Tode Vcrfallener, desscn
abgezehrte Züge nm so erschütternder wirkten unter der ba-
rocken spitzcn Pierrot-Mütze und der rot und weitzen Schminke.
Ein Schauder lief Adele übcr den Rücken.

„Wenn kein Bett da ist, muh das Kind ins Spital,"
brmnmte dcr Arzt.

„Ncin-ich will es zu mir nchmcn, auf mcine Billa.

Man soll nach meiuem Wagcn schicken," erklärte Adele mit
plötzkichem Entschluh.

„Jch fliegc, Jhren Befehl auszuführen, gnädige Frau.
Sie haben das Erbarmen eines Engels", rief Stzezanek, der
Adele gefolgt war. Sie bcmerkie erst jetzt scinc Nähe. Er
Ivar cs, der endlich das Kind mit Kraft und Gewandtheit
auf seinen Arm nahm, in den herbeigerufenen Wagen trug
und mit der noch immer lebkosen Kleinen auf dem Schoh ncben
dcr schönen Frau Platz nahm.

Adele dankte ihm zum erstenmal mit einem frenndlichen
Blick. Jan sagte sich mit heimlichem, leideiischaftlichcni Auf-
jubeln, dah er in einer Stunde seinem Ziele unglaublich rasch
näher gerück't sei. In später Abendstunde betrat er wic ein
vertrauter Freimd die Villa der einsamen Frau. Nun galt
es, diese Fügung des Zufalls mit Geschick zu nützen. lstzezan-
nek wutzte sich auch in den nächsten Tagen durch seinc Dicnst-
eifrigkeit unentbehrlich zu machen. Er übermittelte in Frau
von Lockhardts Apftrag dcm Vater dcs Kindes einc Summe,
die ihn vor dcr äutzersten Not schühen konntc imd zog übcr
dessen Vorleben Erkimdigimgcn cin. Er erfuhr aus dcm
Munde des kranken Clowns, datz dieser guter Leute .Kind ge-
wesen, eine Beamtenstelle inne gebabt, bis ihn die Liebe zn
einem leichtfertigcn Weibe ins Vcrderben gclockt hatte. Um
ihretwillcn hatte er dic Liebe dcr Eltern, Hcimat, Stellung,
Chre verloren, bis ihm nicht übrig gebliebcn war, alS in
der herumziehenden Budc scin Leben zn fristen. Die Frau
batte ihn und das Kind verlasscn und war cinem reichercn
Licbhaber nach Paris gefolgt.

— ^chnaps sür die Frau herbeizuschaffeii. Jn dieser
Hinsicht habeu die Zeitungen zuweileu ganz haarsträu-
bende Zustände ans Tageslicht gebracht, und zum Lobe
der Flamländer niuß es gesagt werden, daß in solchen
Fällen die Wohlhabendeu stets rasch und willig mit Ga-
beu zur Hanü sind, um das materielle Eleud der unglück-
licheu Kinder zu lindern, wodurch freilich der moralischs
Untergang der letztereu nicht aufgehalten wird. Noch
viele andere traurige Wirkimgeu hat der unmäßige Ge»
neverkonsurii sür Belgien zur Folge, so die gewaltige
Zunahme der Bettler uud Vagabunden, die außerordeut-
liche Verbreitung der Luiigenschwindsucht auch unter der
sonst so kräftigen flämischeu Rasse, die wachsende Zahl der
Jrrsimiigen, Epileptiker u. s. w., und rechnet man hierzu
noch das Eingangs erwähute Ueberhcmdnehmen der Ver-
brechen aller Art, so wird es begreislich, weshalb die ein-
sichtsvollen Belgier mit einer so großen Besorgnis die
Fortschritte der Geneverpest versolgen und mit immer
neuen Vorschlägen hervortreten, wie dem weiteren Vor-
dringen dieser schrccklichcii Gefahr sür das ganze Volk
endlich ein krästiger Tamm entgegengesetzt werden könnte.

Aie Wegeümg der MrodukLion.

Es ist heute kein Geheimnis mehr, daß die Jndustrie
der ganzen Welt in eine Epoche der Syndizie-
rung eingetreten ist. Jn üen Vereinigten Staalen, in
England, in Dentschland tritt dieser Zug mit gleicher
Dentlichkeit hervor. England legt mit seinen zahlreichen
großen neuen Syndizierungen überdies klar und deut-
lich Zeugnis davon ab, daß die Syndizierung nicht
etwa eine Folge des Schutzzollsystems ist, sondern aus
der Lage der hentigen Jndustrieverhältnisse mit eleiiien-
tarer Macht von imien hervorwächst. Nach einer Periode
der schier imabsehbaren Ausdchnung und Zersplitterung
der Produktion, welche sich jedem kleinen neuauftreten-
den Bedarse anzupassen suchte, sind die typischen Formen
für eine große Anzahl Bedarfsgegenstände 'gefunden
worden, rmd es hat sich in anderen Zweigen der Vorteil
der Arbeitsteilimg in der Versorgung des nationalen
Marktes als ein so schwerwiegender herausgestellt, daß
eine Zeit der Sammlimg der vorhandenen Kräfte, eine
Zeit der strafferen Organisation der vielgestaltigen Jn-
dustrieprodiiktion kommen mußte. Bimien wenigen Jah-
ren sind in Deutschlcmd gegen 300 Syndikate, Kartelle
und Konventionen entstanden, von denen etwa 80 auf
den Handel, etwa 220 auf die Produktion fallen. Schon
lange reifte in iiidnstriclleii Syndikatskreisen das Bewußt-
sein heramdatz alle solche Bereinigimgen, mochten sich auch
im einzelnen ihre Fnteressen gegenüberstehen, doch ein sol-
ches Maß von genieinscimen Jnteressen hätten, daß es ein
Gebot derNotwendigkeit sei, sich zu einerOrganisation zur
Wahrung derselben zusamiiienzuschließen.80Syndikate der
Metallindustrie,40 auf dem Gebiete vonGIas,Steinen und
Erden, 30 in der chemischen Jndustrie, 20 in der Textil-
industrie und je zehn in der Kohlenindustrie, Nahrimgs-
mittelindustrie imd Papierindustrie sowie einige kleinere
Grnppen in nnderen Jndustriezweigen legen davon
Zeugnis ab, daß das Bedürfnis der Syndizierung allent-
halben da ein allgemeines ist, wo die Produktion sich
nicht in unzählige Spezialitäten spaltet, wie etwa bei
Wollwebereien, sondcrn auf cine gleichartige Massenerzeu-
gung ausgeht. Daß diese neue Wirtschaftsform, wel-
cher bereits ein festgegründetes Heimatsrecht in dem

Adele vernahm diescn Bericht mit dumpfcn Entsetzen. Vor
dcm schöncn, blasscn Kmdcrgcsichtchcn war in ihr der Wunsch
erwacht, dic verwahrlostc Klcine an Stellc dcs vcrlorenen
Liebkings im Hause zu behaltcn. Nun aber schwankte sie in die-
scm Entschlutz. Es graute ihr vor dcr Muttcr, dic uoch
lcbte, vor dem Erbteil, das dicses Kind wohl iin Blute trug.

So lange Dahla, die das FLtzchen gcbrocheu hatte, zu Bett
liegeu mutztc, war sic still und brav gewesen; doch sobald sie
sich wieder bcwegen konnte, erwachtc ihr iu dem uugewohnten
Wohlkeben ein bischcu wildcr llebermut. Dcr kleine Wild-
faug, der bisher nur an Schläge gewöhnt gewesen war, war mit
GLte einfach nicht zu zügeln. Frau von Lockhardt abcr ver-
lor jedwede Freude an dem nnbändigcn kleincn Gcschöpf, als
sich herausstelltc, datz das Kind heimlich ans dcm Zimmer
gelaufcn war und in cincm Ladcn die Korallenkcttc, dic sie
ihm geschenkt, verkanft hatte. Als man Dahla frug, was sie
mit dem Geldc gcthan schütteltc sie den Kopf, leugnete erst hart-
näckig, behauptetc, sic habc die Kette verkoren nnd schrie
dann endlich in ausbrechcnder Wildheit, indem sic trotzig
mit den Armen nm sich stieß:

„Jch sage cs nicht. Jch sage es nichtl Thun Sic mir, was
Sie wollen, ich sage es nicht!"

Dähla hattc, scit sic am Fenster licgcn durfte, tagtäglich
den Knaben, der sich mit einer Düte verznckerter Mandcln ihr
Herz gewonncn, anf seincm Wege znr Schule vorübergehen
schcn; znwcilen mit cincm recht tranrigcn Gcsickst, einmal mit
einer ganz geschwollcnen Wangei Er hatte oftmals zu ihr
hcraufgeblickt und ihr mit Zeichen zu vcrstehcn gcgebcn, datz
er Schlägc bekommc, datz er fort wolle. Jn dcr Lcmgeweile
dcs bornchm-stillen Hauscs ivar es dcm einsamen Kinde im-
mer mehr znm brenncndcn Wunschc gewordcn, dcm Knaben
zu helfen, ihm das Geld, das er snr dic Reise zn scinem Vor-
mund branchte, zu verschaffcn. Adele abcr, dic ihr manches
Gcschenk mackste, gab ihr niemäkS Gekd: so fand Dahla es ganz
natnrlick, datz sie die Korallenkette, dle ihr anch nicht besser
gcfiel als die salsche, die sic im Zirkns getragen hatte, für
 
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