Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 21.1905-1906
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Thode, Henry: Die künstlerische Wiedergeburt des Menschen aus der Landschaft, [1]
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KÜNSTLER. WIEDERGEBURT DES MENSCHEN AUS DER LANDSCHAFT
FRIEDRICH VON SCHENNIS RADIERUNG
Große Berliner Kunstausstellung 1905
im Verlaufe der Entwicklung als die eigen-
tümlichste und daher beachtenswerteste Er-
scheinung die Landschaftsdarstellung in den
Vordergrund treten. Das heißt aber soviel,
als daß, wie schon früher bemerkt ward, eben
die Malerei, nicht die Plastik, dem Ausdrucks-
bedürfnis in der neueren Kultur besonders
entsprach. Im höchsten Sinne freilich hätten
wir der Plastik der Griechen die Musik der
Germanen gegenüberzustellen!
In welcher Art nun aber bildet sich, ver-
glichen mit der Menschendarstellung der
Antike, die Landschaft in der christlichen
Zeit aus? Eine lange Entwicklung seit dem
Mittelalter zeigt sich: von der Gestaltung
des idealen Menschen in plastischem Sinne,
wie sie insonderheit von der florentinischen,
allgemein betrachtet aber von der italienischen
Kunst überhaupt gegeben ward, bis hin zu
der Auffassung und Wiedergabe der Land-
schaft nach ihren Stimmungswirkungen, die
hauptsächlich durch das Licht hervorge-
bracht werden, in der holländischen Malerei.
Eine Zwischenstellung gleichsam zwischen der
florentinischen Formenbestimmtheit mensch-
licher Gestalt und der holländischen, licht-
durchwebten Landschaftsdarstellung nimmt
die venezianische Malerei des 15. und 16. Jahr-
hunderts ein. Wenn man es in wenige Worte
zusammenfassen will, also: plastische Form:
Florenz; Farbenharmonie: Venedig; Licht-
kunst: Holland. Wobei die weit über Flo-
rentinische Auffassung hinausgehende Be-
rücksichtigung des Landschaftlichen in Ve-
nedig als bezeichnend für die geheimnisvolle
Beziehung zwischen dem Koloristischen, als
dem eigentlich Malerischen, und dem Land-
schaftlichen beachtet sein will.
Sehen wir aber genau hin, so zeigt es sich,
daß in Deutschland und in den Niederlanden,
also in der speziell germanischen Kunst, be-
reits im 15. Jahrhundert der Weg nach der
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FRIEDRICH VON SCHENNIS RADIERUNG
Große Berliner Kunstausstellung 1905
im Verlaufe der Entwicklung als die eigen-
tümlichste und daher beachtenswerteste Er-
scheinung die Landschaftsdarstellung in den
Vordergrund treten. Das heißt aber soviel,
als daß, wie schon früher bemerkt ward, eben
die Malerei, nicht die Plastik, dem Ausdrucks-
bedürfnis in der neueren Kultur besonders
entsprach. Im höchsten Sinne freilich hätten
wir der Plastik der Griechen die Musik der
Germanen gegenüberzustellen!
In welcher Art nun aber bildet sich, ver-
glichen mit der Menschendarstellung der
Antike, die Landschaft in der christlichen
Zeit aus? Eine lange Entwicklung seit dem
Mittelalter zeigt sich: von der Gestaltung
des idealen Menschen in plastischem Sinne,
wie sie insonderheit von der florentinischen,
allgemein betrachtet aber von der italienischen
Kunst überhaupt gegeben ward, bis hin zu
der Auffassung und Wiedergabe der Land-
schaft nach ihren Stimmungswirkungen, die
hauptsächlich durch das Licht hervorge-
bracht werden, in der holländischen Malerei.
Eine Zwischenstellung gleichsam zwischen der
florentinischen Formenbestimmtheit mensch-
licher Gestalt und der holländischen, licht-
durchwebten Landschaftsdarstellung nimmt
die venezianische Malerei des 15. und 16. Jahr-
hunderts ein. Wenn man es in wenige Worte
zusammenfassen will, also: plastische Form:
Florenz; Farbenharmonie: Venedig; Licht-
kunst: Holland. Wobei die weit über Flo-
rentinische Auffassung hinausgehende Be-
rücksichtigung des Landschaftlichen in Ve-
nedig als bezeichnend für die geheimnisvolle
Beziehung zwischen dem Koloristischen, als
dem eigentlich Malerischen, und dem Land-
schaftlichen beachtet sein will.
Sehen wir aber genau hin, so zeigt es sich,
daß in Deutschland und in den Niederlanden,
also in der speziell germanischen Kunst, be-
reits im 15. Jahrhundert der Weg nach der
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