-^=fe^> DIE GRAPHISCHEN KÜNSTE
wo man exakter forschend
dem Sehorgan und seiner Ver-
fassung, der Kurzsichtigkeit,
der Weitsichtigkeit, dem be-
sonderen Farbenempfinden
des jeweiligen Künstlers, dem
besonderen Linienempfinden
des Künstlers mehr Aufmerk-
samkeit zuwendet. Hier hätte
der Arzt ein Wort mitzu-
reden. Die Wissenschaft vom
Schönen wird sich mehr ent-
wickeln — wie auf allen Ge-
bieten — zur Wissenschaft
vom Notwendigen, Begrün-
deten.
Und diese Wissenschaft
wird zur Geschichte der mo- a. Hengeler Pressefest 1903
dernen Kunst Aufschlüsse
liefern, die mehr sind als Behauptungen und sich herauskonstruiert, wird am suggestivsten
geschichtliche Parallelen. Damit fällt in keiner wirken. Physiologische und psychologische
Weise die Bedeutung der Kunst. Im Gegen- Notwendigkeit durchdringen sich übrigens,
teil, sie steigt. Wer Verständnis sucht, rechnet mit der Psyche
Die moderne Zeichnung ist solch ein Stück des anderen; wer in sich ein Wirken spürt,
Notwendigkeit. Von innen gesehen, vom Künst- spürt auch das Physiologische. Und auch
ler aus, psychologische, nach außen hin, Wir- das entspricht der wissenschaftlichen For-
kung erstrebend, Verständnis suchend, physio- schung. Denn den physiologischen Vorgang
logische Notwendigkeit. Sie sei es wenig- in mir selbst, ins Bewußtsein tretend, nenne
stens. Der Künstler, der hier am reinsten ich psychologisch. Der psychologische Vor-
gang im anderen, den ich nur sehe, nicht
empfinde, ist für mich physiologisch.
Es wird bei künstlerischen Dingen so oft
oberflächlich, schematisch und willkürlich
geurteilt. Ein Kunstwerk entsteht nicht nur
als psychologische Merkwürdigkeit, ökono-
mische, physiologische, technische Faktoren
wirken zusammen. Der Schaffende ist ein
Komplex von Empfindungen und Tätigkeiten,
der umwandelnd und verwandelnd hinein-
wächst in eine fertige Umgebung, die den-
noch durch ihn wieder Aenderung erfährt.
Für die moderne Illustration — meist wird
immer so getan, als wäre sie so zufällig ent-
standen, aus genialer Laune, übersprudelnder
Kraft und demgemäß beschränkt sich alle
Schilderung auf die Aneinanderreihung psycho-
logisch interessanter Einzelzüge — habe ich
diesen Versuch unternommen, die Wege des
Werdens mannigfaltiger zu erhellen und die
Bedingungen anzudeuten.
GEDANKEN ÜBER KUNST
Der schlimmste Feind aller Kunst ist ein unbe-
scheidener Verstand, der ihre Gesetze besser kennen
will als sie selbst.
*
Gewohnheit ist die ärgste Feindin der känst-
bruno paul presse-fest 1903 lerischen Wahrheit. August Pauly
206
wo man exakter forschend
dem Sehorgan und seiner Ver-
fassung, der Kurzsichtigkeit,
der Weitsichtigkeit, dem be-
sonderen Farbenempfinden
des jeweiligen Künstlers, dem
besonderen Linienempfinden
des Künstlers mehr Aufmerk-
samkeit zuwendet. Hier hätte
der Arzt ein Wort mitzu-
reden. Die Wissenschaft vom
Schönen wird sich mehr ent-
wickeln — wie auf allen Ge-
bieten — zur Wissenschaft
vom Notwendigen, Begrün-
deten.
Und diese Wissenschaft
wird zur Geschichte der mo- a. Hengeler Pressefest 1903
dernen Kunst Aufschlüsse
liefern, die mehr sind als Behauptungen und sich herauskonstruiert, wird am suggestivsten
geschichtliche Parallelen. Damit fällt in keiner wirken. Physiologische und psychologische
Weise die Bedeutung der Kunst. Im Gegen- Notwendigkeit durchdringen sich übrigens,
teil, sie steigt. Wer Verständnis sucht, rechnet mit der Psyche
Die moderne Zeichnung ist solch ein Stück des anderen; wer in sich ein Wirken spürt,
Notwendigkeit. Von innen gesehen, vom Künst- spürt auch das Physiologische. Und auch
ler aus, psychologische, nach außen hin, Wir- das entspricht der wissenschaftlichen For-
kung erstrebend, Verständnis suchend, physio- schung. Denn den physiologischen Vorgang
logische Notwendigkeit. Sie sei es wenig- in mir selbst, ins Bewußtsein tretend, nenne
stens. Der Künstler, der hier am reinsten ich psychologisch. Der psychologische Vor-
gang im anderen, den ich nur sehe, nicht
empfinde, ist für mich physiologisch.
Es wird bei künstlerischen Dingen so oft
oberflächlich, schematisch und willkürlich
geurteilt. Ein Kunstwerk entsteht nicht nur
als psychologische Merkwürdigkeit, ökono-
mische, physiologische, technische Faktoren
wirken zusammen. Der Schaffende ist ein
Komplex von Empfindungen und Tätigkeiten,
der umwandelnd und verwandelnd hinein-
wächst in eine fertige Umgebung, die den-
noch durch ihn wieder Aenderung erfährt.
Für die moderne Illustration — meist wird
immer so getan, als wäre sie so zufällig ent-
standen, aus genialer Laune, übersprudelnder
Kraft und demgemäß beschränkt sich alle
Schilderung auf die Aneinanderreihung psycho-
logisch interessanter Einzelzüge — habe ich
diesen Versuch unternommen, die Wege des
Werdens mannigfaltiger zu erhellen und die
Bedingungen anzudeuten.
GEDANKEN ÜBER KUNST
Der schlimmste Feind aller Kunst ist ein unbe-
scheidener Verstand, der ihre Gesetze besser kennen
will als sie selbst.
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Gewohnheit ist die ärgste Feindin der känst-
bruno paul presse-fest 1903 lerischen Wahrheit. August Pauly
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