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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 47.1931-1932

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Herke, Karl: Goethes Urerscheinungslehre und der Surrealismus
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Théo van Goghs Briefe an seinen Bruder Vincent, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.16479#0325

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Wege, 1931) über die von ihm aufgesuchten lite-
rarischen Surrealisten Frankreichs erfahre: „Ihre
Dichtung steht der deutschen Romantik ebenso nahe
wie dem Dadaismus, den wir erlebt haben : außer-
dem aber der Psychoanalyse. Achim von Arnim ist

einer ihrer Lieblingsautoren. - Die von mir nur ge-
fühlte Beziehung der jungen Maler zu Delacroix
ist mir danach verständlicher, auch die führende
Stellung eines Deutschen wie Max Ernst.

Karl H. Herkc

THEO VAN GOGHS BRIEFE AN SEINEN BRUDER VINCENT

(Fortsetzung von Seite 298)

Der zweite Brief fällt in die Zeit, während der A in-
cent in St. Remy ist. Vincent antwortet auf Theos
Brief am 19. Juni (Nr. 582, Bd. III der Briefe).

Theo van Gogh an den Bruder

27. Okt. 1888

. . . Aus Deinem Briefe sehe ich, daß Du krank bist
und Dir viele Sorgen machst. Ein für allemal muß
ich Dir dies sagen: Ich will es so betrachtet haben, als
ob die Geldangelegenheit und der Bilderverkauf und
die ganze finanzielle Seite nicht bestände oder viel-
mehr nur wie eine Krankheit. Da es sicher ist, daß
vor einer beträchtlichen Revolution oder wahrschein-
lich mehreren Revolutionen die Geldfrage nicht ver-
schwinden wird, muß man sie behandeln wie die
W indpocken, wenn man sie bereits hat. Das heißt,
man muß gegen das Unglück, das daraus entstehen
könnte, Vorsichtsmaßregeln treffen, aber sich im
übrigen nicht gallig ärgern. Du denkst in letzter Zeit
viel zu viel daran, und obschon es für ein Lnglück
keinerlei Anzeichen gibt, leidest Du daran. Mit dem
Lnglück meine ich die Armut, und um nicht in sie
zu kommen, muß man ruhig weitergehen, alle Ex-
zesse und anderen Krankheiten so gut wie möglich
vermeiden. Du sprichst von Geld, das Du mir schul-
dest und das Du mir wiedergeben willst. Ich weiß
nichts davon. Ich möchte, daß Du einmal dahin
kommst, solche Vorurteile nicht mehr zu haben. Ich
muß für Geld arbeiten. Wir haben alle beide nicht
viel und sollten uns nicht zu viel auf den Nacken
laden, aber auch das in Betracht gezogen, können
wir uns noch einige Zeit halten, auch ohne jeden
Verkauf. Wenn Du das Bedürfnis hast, ganz für Dich
zu arbeiten, nun gut, sag es mir, ich denke, wir kön-
nen trotzdem durchkommen. Aber Deine Bechnung
mit so viel Bildern zu je 100 Francs verstehe ich
nicht. Wenn sie nur 100 Francs kosten sollen, sind
sie gleich gar nichts wert, denn diese unvornehme
Gesellschaft braucht sie nicht. So laß es uns machen
wie sie selbst: auch wir brauchen sie nicht: ist nicht
ein Gewarnter Zweie wert?* Wenn Du etwas für
mich tun willst, dann mache weiter wie bisher und
bringe einen Kreis von Künstlern und Freunden zu-
sammen, wozu ich allein ganz unfähig bin, was Du
aber, seit Du in Frankreich bist, schon fertig ge-
bracht hast. Ist es nicht so, daß immer die Künstler

*) franz. Sprichwort.

den Anfang machen, die anderen aber nachfolgen
werden, wenn wir ihrer bedürfen, in dem Augenblick
nämlich, wo wir nicht mehr wie jetzt arbeiten kön-
nen? Ich bin davon felsenfest überzeugt. Du weißt
nicht, wie wehe Du mir tust, wenn Du sagst, Du
werdest einst so viel gearbeitet haben, daß es Dir
scheine, als habest Du gar nicht gelebt. Das ist ge-
wiß nicht wahr, denn gerade Du lebst wie die Gro-
ßen und Edlen. Aber gib mir um Himmels willen
Nachricht, damit ich nie fürchten muß, Du seist in
Not oder krank gewesen, weil Dir das Brot zum
Leben fehlte.

16.Juni 1889.

Mein lieber Vincent!

. . . Deine letzten Bilder haben mir viel zu denken
gegeben über die Geistesverfassung, in der Du sie
gemalt hast. Es ist in allen eine Macht der Farben,
wie Du sie noch nie erreicht hattest, was ihnen eine
seltene Qualität gibt, aber Du bist noch darüber
hinausgegangen, und wenn es solche gibt, die das
Symbol durch Vergewaltigung der Form suchen, so
finde ich es in vielen Deiner Bilder als bewußte
Expression Deiner Gedanken über die Natur und
die Lebewesen, denen Du Dich so stark verbunden
fühlst. Aber wie muß Dein Kopf gearbeitet haben
und wie hast Du Dich vorgewagt bis zu dem Punkt,
wo das Schwindelgefühl unvermeidlich ist. Darum,
mein lieber Bruder, wenn Du mir sagst, daß Du von
neuem arbeitest, was mich einerseits erfreut, weil
Du darin ein Mittel findest, über den Zustand hin-
wegzukommen, dem so viele Unglükliche verfallen,
die in dem Hause, wo Du bist, gepflegt werden, den-
ke ich doch auch mit einiger Unruhe daran, denn
vor Deiner vollkommenen Gesundung solltest Du
Dich nicht in diese mysteriösen Bereiche vorwagen,
die man, wie es scheint, zwar streifen, in die man
aber nicht ungestraft eindringen kann. Strenge Dich
nicht mehr als nötig an, denn wenn Du auch nur
einen einfachen Bericht von dem, was Du siehst,
gibst, so sind auch darin schon genug Qualitäten,
daß Deine Bilder bleiben. Denke doch an die Still-
leben und Blumen, die Delacroix malte, als er aufs
Land zu G. Sand ging. Allerdings kam bei ihm nach-
her eine Reaktion, als er die ..Erziehung der Jung-
frau" malte, und es ist nicht gesagt, daß Du nicht
später, wenn Du es so machst, wie ich rate, ein
Meisterwerk schaffen wirst......

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