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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 2.1908

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Heft VII (Juli 1908)
DOI Artikel:
Ernst, Otto: Im Lehrerseminar
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https://doi.org/10.11588/diglit.31819#0075

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— G7 —

genommen hatte, da setzte ihm Herr Semmelhaack ein dreiseitiges Prisma von Holz vor.
Asmus zeichnete willig den Holzklotz und wartete die Wiederkunft des Lehrers ab.
Herr Semmelhaack kam und legte das Prisma auf eine Seitenfläche. (Bis dahin hatte
es auf einer Grundfläche gestanden.)
Asmus zeichnete den Klotz in der neuen Stellung und erwartete den Lehrer.
Herr Semmelhaack kam und legte das Prisma auf eine andere Seitenfläche.
Asmus dachte: Aller Anfang ist öde und zeichnete den Klotz zum drittenmal.
Herr Semmelhaack hatte an der Zeichnung einiges auszusetzen und legte dann den
Klotz auf die grosse Seitenfläche.
Asmus dachte:
porträtierte das inter¬
essante Holz zum
vierten Male.
Jetzt bin ich
mit dem verdammten
Klotz durch, dachte
Asmus; da kam der
Lehrer und stellte das
Prisma etwas nach
rechts.
Asmus richtete
einen langen Blick auf
Herrn Semmelhaack
und zeichnete dann
das rechtsstehende
Prisma.
Danach kam
Herr Semmelhaack und
stellte der Abwechs¬
lung wegen das Prisma
etwas nach links.
Per aspera ad
astra, dachte Semper
und machte auch das.
Hierauf nahm der
„Lehrer“ das Prisma
und stellte es Sempern
wieder gerade vor die
Nase, aber „über Eck“,
so dass man drei
Flächen auf einmalsah.
„Es ist aller¬
dings etwas Andres
und Neues“, sagte sich
Asmus, betrachtete
Herrn Semmelhaack
mit einem noch viel
längeren Blick und
machte sich wieder
an seinen vertrauten
Klotz.
In verzweifelten
Momenten schaute As-
mus sich sehnenden Blickes um: es gab überall nur Holz und Gips. Der grösste Künstler
unter den Schülern zeichnete einen pompösen Blumenstrauss — von Gips. In der ganzen
Anstalt, soweit er hineinblicken konnte, sah er kein lebendiges, erfreuendes Objekt.
Er traute seinen Augen nicht, als Herr Semmelhaack eines Tages das dreiseitige
Prisma wegnahm und einen neuen Klotz brachte. Dieser Klotz bestand aus zwei vierseitigen
Prismen, die im rechten Winkel aneinandersassen. 0, damit konnte man nun die tollsten
und interessantesten, die bizarrsten und perversesten Dinge vornehmen, bis zum jüngsten
Gericht konnte man das immer wieder anders aufstellen. Als Asmus bei der siebenten
Stellung war, da lag der Winkelklotz da wie eine Sphinx, die ihre Arme breit über die
ganze lange Bank legte, den Kopf in die Hände stützte und ihn anglotzte und angähnte,
und dazu sagte die Sphinx, indem sie immer zwischen zwei Worten gähnte: „Ich kann —
395 Millionen Stellungen — einnehmen — huu — ja.“
„Das hält kein Nilpferd aus,“ antwortete Asmus.
„Sagten Sie etwas?“ fragte Herr Semmelhaack.
„Ja, ich kann nicht mehr zeichnen. Ich habe Augenschmerzen.“ Zum nächsten Unter-
richt ging er überhaupt nicht; er entschuldigte sich mit Augenschmerzen.

Wurzeln der Kunst sind bitter; aber ihre Früchte sind süss, und
Abbildung 3.
 
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