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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 2.1908

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Heft VIII (August 1908)
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Kerschensteiner, Georg: Die Schule der Zukunft eine Arbeitsschule, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31819#0084

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zur Arbeit bereit. Hier ist ihr ausgiebigstes Lernfeld. Hier sind die tausend
Dinge, die der wachsende Verstand lebhaft ergreift, hier entwickeln sich Hunderte
von Fertigkeiten, die der unbewusste Muskelsinn erfasst, hier lernen sie vor allem
den Pulsschlag des sozialen Lebens in ihren eigenen Taten fühlen. Hier lernen
sie die Beziehungen empfinden, die das gemeinsame Leben von Person zu Person
schafft, die Abhängigkeit des Kleinen vom Grossen, aber auch des Grossen vom
Kleinen, hier lernen sie den Eigenen wie den Fremden helfen und entgegenkommen,
den Traurigen trösten, den Hungrigen speisen, den Müden aufrichten, dem Mutlosen
Vertrauen einflössen und, genau wie in ihren Spielen, gemeinsam streben, gemein-
sam organisieren, sich freiwillig unterordnen.
Und nun öffnet die Schule ihre Tore. Weg ist alle Beschäftigung, die das
ganze Kind erfasste, weg alle Realität des Hauses, der Werkstatt, der Küche, des
Stalles, des Gartens, des Feldes. Weg ist alles Graben, Bauen, Fabrizieren, alles
produktive Schaffen. Weg ist die ganze Welt des Kindes. Eine neue, fremde
Weit mit hundert Rätseln und unfassbaren Forderungen und Zwecken steht vor
ihnen. Statt dem Sandhaufen, dem Baukasten, der Schere, dem Hammer, der
Peitsche — Tafel, Griffel, Fibel, Lineal; statt dem lustigen Schwatzen und Fabu-
lieren — Schweigen und Zuhören; statt dem Umherschweifen der Gedanken in der
Welt des Scheines — Aufmerken und den Geist in gerader Richtung führen;
statt dem Entdecken, Versuchen, Probieren, Produzieren — Nachahmen; statt dem
lustigen Tummeln auf Strassen und Gassen — Stillsitzen und Festhalten; statt
gemeinsamer Unternehmungen unter einem freigewählten Führer — einsame, vor-
geschriebene Beschäftigung; statt dem schwachen Freund nebenan zu helfen —
sich abschliessen, dass er nicht abschreibe. Ist es da ein Wunder, wenn die Kleinen
zuerst erschrocken stehen und den Kopf verlieren, wenn sie sich in sich kehren,
statt aus sich herauszugehen, wenn ihre Gedanken hinausschweifen über die vier
Wände des Schulraumes, trotz allem guten Willen, aller Mahnungen und Strafen.
Zum Glück neigt sich meist ein mildes Lehrerherz über sie und fängt die
scheuen Vögel mit Liebe und Güte, nimmt ihnen die grossen Steine aus dem Wege,
die sie hindern, vorwärts zu schreiten auf dem neuen und ungewohnten Pfade des
Wissens. Und die Mühlsteine der systematischen Methodik zermahlen die harten
Körner des fremdartigen, innerlich nicht begehrten Wissens zu Mehl und Brei,
damit auch der Schwächste die neue Nahrung aufnehmen könne. Allmählich ge-
wöhnen sich die meisten Kinder an die neue Insel der Erkenntnis, zu der sie täg-
lich zweimal vom Festlande ihres sonstigen Erfahrungskreises hinüberrudern, zu der
sie aber keine Brücke zu schlagen wissen. Ja noch mehr. Sie gewöhnen sich an
ihre Arbeitsmethoden und gewinnen sie lieb. Anstatt mit wirklichen Dingen um-
zugehen, lernen sie mit ihren Schatten zu verkehren; an die Stelle der Erfahrungs-
welt steigt das Buchwissen mit den Ehrenkränzen, die ihm die Schule windet, in
ihrer Wertschätzung, an die Stelle der einstigen kühnen Unternehmungslust auf
ungebahnten Entdeckerpfaden tritt das wackere Arbeiten auf eingeübten und ein-
gefahrenen Geleisen, an Stelle des Beobachtens, Forschens und Zweifelns das
Schwören auf die Worte des Meisters.
Ich würde ungerecht sein, würde ich die Vorteile verkennen, die gleichwohl
die heutige Schule der Erziehung bietet, die sich aus der Gewöhnung an ur-
sprünglich unbegehrte Arbeit entwickeln, aus dem festen Gefüge des Schullebens
mit seiner peinlichen Ordnung und seinem unnachsichtlichen Ernste. Gewiss können
sich hier die Kinder wertvolle Grundeigenschaften aneignen, die wir durchaus nicht
missen wollen: Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt, Ausdauer, Ordnung,
Regelmässigkeit, Selbstüberwindung. Ja man muss gestehen, dass gerade diese
sittlichen Werte gerne da gedeihen, wo die Schule nicht ausschliesslich den Nei-
gungen des Schülers nachgeht,*) vorausgesetzt, dass der Stern eines freundlichen
Lehrerherzens, die Sonne einer verständigen Güte leuchtet.
*) Daher kann ich auch nicht mit jenen übereinstimmen, welche den Unterricht aus-
schliesslich auf die innere angeborene Neigung des Schülers gestellt wissen wollen. Wir
können nicht früh genug lernen, auch gegen unsere Neigung pflichtgemäss zu arbeiten.
 
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