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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 2.1908

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Heft X (Oktober 1908)
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Kerschensteiner, Georg: Die Schule der Zukunft eine Arbeitsschule, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31819#0112

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abgesehen von den Schreib- und Leseschulen, Lernschulen mit religiösen oder
literarischen Bildungszwecken. Die Lateinschulen, die aus den mittelalterlichen
Kirchenschulen herauswuchsen, gaben das Modell für die Realschulen des 18. Jahr-
hunderts, und wie man Religion, Sprachen, Geschichte lehrte und lehren musste,
so lehrte man auch alles andere und lehrt es heute noch so. Der Menschheit
aber fällt es immer schwer, sich von uralten Anschauungen und Gewohnheiten
loszulösen.
Dies wird um so schwerer, wenn nun zweitens das ganze Organisations-,
Beaufsichtigungs- und Prüfungswesen auf den Charakter der Lernschule zugeschnitten
ist. Es ist so leicht zu inspizieren und zu prüfen, wenn man nur die Wissens-
menge zu wägen hat; denn einmal kann man hier Massenwägungen vornehmen,
und dann kann man als Examinator leicht zwei Tage zuvor das auswendig lernen,
was man am dritten Tage prüfen will. Das lässt die Arbeitsschule nicht mehr zu.
Hier muss man können und nicht bloss kennen, um recht zu prüfen. Völlig
unmöglich ist das Abfragen im Massenbetrieb, sei es in schriftlicher oder münd-
licher Form. Die Arbeitsschule darf den Volksschüler bei der Prüfung nicht mehr
fragen: „Was versteht man unter spezifischem Gewicht und wie bestimmt man es?“
Sie wird dem Schüler ein Stück Blei, Stein oder Holz geben und ihn das spezifische
Gewicht in Wirklichkeit bestimmen lassen. Der Arbeitsschule kann es gleichgültig-
sein, ob der Realschüler die 24 Klassen des Linneschen Systems aufsagen kann
oder nicht, denn sie ist sich bewusst, dass die Buchdruckerkunst jedes schwächere
Gedächtnis leicht ersetzen kann. Sie ist völlig zufrieden, wenn der Schüler die
Pflanze zu bestimmen weiss, die ihm gegeben wurde.
Ein drittes Hindernis für die Umwandlung sind die erhöhten Kosten. Die
Schulhäuser sind mit Werkstätten und Laboratorien, mit Schulküchen und Schul-
gärten auszurüsten. Die Lehrer selbst sind mit einer ganz anderen, vor allem
dauerhafteren Vorbildung auszustatten, als bisher, wo das Seminar ebenso wie alle
anderen Schulen wenig mehr als eine Mastanstalt für Buchwissen ist. Endlich
aber verträgt die Arbeitsschule nicht den Massenbetrieb, wenigstens nicht in den
Arbeitsstunden. In den Werkstätten können nur 16 bis 20, in den Küchen nur
20 bis 24, in den Laboratorien nur 24 bis 30, im neuen Zeichenunterricht nicht
über 36 gleichzeitig beschäftigt und geleitet werden.
Aber alles Gute kostet eben mehr, wie das Mittelmässige. Und wie wir,
wenn wir eine weite Fussreise antreten, für ein dauerhaftes Paar Schuhe gerne
etwas mehr bezahlen, so dürfen wir für das äusserst dauerhafte Erfahrungswissen,
mit dem die Arbeitsschule unsere Kinder für die Lebensreise ausrüstet, sehr wohl
etwas grössere Summen anlegen, als für das nur allzu flüchtige Buch- und Ge-
dächtniswissen. Die Mehrkosten sind auch nicht so wesentlich. Denn die Zeit,
die durch Teilung der Klassen im Arbeitsunterricht mehr bezahlt werden muss,
lässt sich im theoretischen Unterricht zum Teil wieder einsparen. Arbeitet doch
hier das ganze ungeteilte Interesse des Kindes mit.
Je mehr wir daher die Einsicht vom Wert der Arbeitsschule durch Wort und
Beispiel verbreiten, je mehr wir uns vor jenen törichten Uebertreibungen hüten,
welche an der alten Lernschule gar nichts Brauchbares finden, je mehr wir die
Menschen überzeugen, dass das Wissen der Lernschule ganz ausgezeichnet sich
organisch in die Arbeitsprozesse eingliedern lässt, dass wir durchaus nicht beab-
sichtigen, die für den späteren Brot- und Bildungserwerb so wichtigen alten Fertig-
keiten des Lesens, Schreibens und Rechnens zu vernachlässigen, desto eher werden
die Widerstände verschwinden, desto eher wird sich die grosse Umwälzung in
unserem gesamten Schulbetrieb vollziehen, eine Umwälzung, von der John Dewey
meint, dass sie nicht unähnlich der sein wird, die einst Kopernikus herbeigeführt
hat, als er das astronomische Zentrum von der Erde in die Sonne verlegt hat.
„Das Kind wird dann die Sonne sein, um welche sich die Einrichtungen der Schule
drehen, es wird der Mittelpunkt, um welchen die Erziehung organisiert ist.“
Ist diese Umwälzung, wenn auch vielleicht nicht ganz im Sinne Deweys, voll-
zogen, dann erst wird auch die Verbindung von Haus und Schule vollzogen sein.
 
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