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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 14.1932

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Oktoberheft
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Riess, Margot: Graphologische Bildbetrachtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.26709#0031

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/ahrgang 1932 OkioDernßft

Graphologische Bildbetrachtung

Von

Margot Rieß

„Seine Schrift regnet.

Seine Zeichnung: Trüber Buchstabe.“

(Else Lasker-Schüler über George Groß.)

Man mag von der Graphologie als praktisch anzu-
wendender Wissenschaft halten was man will: von
noch gar nicht abschätzbarer Bedeutung ist jedenfalls
die Lehre, die sie als Methode den andern ihr benach-
barten „Deutungswissenschaften“ — vor allem der
Kunstbetrachtung — gegeben hat (für den, der Augen
hat, zu sehen).

Daß das Bild unter anderem auch als grapholo-
gisches Material dienen kann, d. h. daß seine Formen-
sprache nicht nur ästhetisch, sondern auch in hohem
Maße charakterologisch deutbar ist, muß einem ohne
weiteres klar werden, wenn man einmal den Blick
zwischen der Handschrift des Künstlers und seinem
gestalteten Werk hin und her schweifen läßt. So
wie jene von dekorativen Elementen durchaus nicht
frei ist, so enthält dieses verschiedene als „Zeichen“
deutbare Bestandteile, die in mehr oder weniger hohem
Grade von der Ganzheit der Bildexistenz „ablösbar“
sind.

Die Spannung zwischen bewußtem Wollen und un-
bewußtem Tun ist bei Handschrift und Bild gleicher-
maßen vorhanden. Das aber ist es, worauf es hier
ankommt, viel weniger auf den Inhalt des bewußt Ge-
wollten, der allerdings bei beiden grundverschieden
ist: hier Mitteilungs- dort Darstellungswille. Immer-
hin ist in unserem Zusammenhänge auch darin eine
Ähnlichkeit anzuerkennen, als Handschrift und
Bild von einer nachzuahmenden Vorlage aus-

gehen. Denn wie bei der Handschrift die Schulvorlage,
so wird beim Bild die Natur versuchsweise nachge-
ahmt. Auch in der Handschrift gibt es ein mehr oder
weniger phantasievolles Gestalten und Umwandeln
von Formen. Wiederum wird die zwingende Notwen-
digkeit, die Dinge im Bilde eben nach dieser und
keiner andern möglichen spezifischen Richtung abzu-
ändern, zu steigern, zu gestalten — unter anderm —
charakterologisch bedingt sein. Nicht umsonst redet
ja die Ästhetik gern von der „Handschrift“ eines Künst-
lers — nämlich meistens dann, wenn sie mit rein for-
malen Gesichtspunkten nicht mehr recht weiter
kommt.

Der sehr vage gewordene und bereits etwas abge-
nutzte Begriff „Gestaltung“ würde jedenfalls eine
energische Versachlichung erfahren, wenn man sich
bei seinem Gebrauch mit einiger Konsequenz an der
Methode der Graphologie orientierte. Das Eindringen
in diese Methode erzieht ja endlich zu dem, was dem
Kritiker, Ästheten, Kunsthistoriker erst eigentlich Be-
fugnis zu seiner Betätigung verleiht: zu einer abso-
luten Formempfindlichkeit, dazu, Form — nach Goe-
thes resigniertem Wort noch immer „ein Geheimnis
den meisten“ — als direkte Sprache zu empfinden.

Denn da uns die Graphologie eine ganz einzigartige
Methode an die Hand gibt, eine irgendwie durch gra-
phische Zeichen aufgeteilte Fläche in ihrer geheimsten
Motivierung zu deuten, indem sie auf den Prozeß des
graphischen Geschehens eingeht, den Ablauf der
Schriftbildung vom Ansatz bis zum Abschluß Strich
für Strich, Kurve für Kurve, Punkt für Punkt, Zwi-
schenraum für Zwischenraum zurückverfolgt, gewin-
 
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