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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 14.1932

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November-Dezemberheft
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Boeck, Wilhelm: Die künstlerische Abkunft Vermeers: aus Gedanken von Emil Orlik
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https://doi.org/10.11588/diglit.26709#0068

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Die künstlerische Abkunft Vermeers

Aus Gedanken von Emil Orlik

Von

Wilhelm Boeck

Der Vermeer kürzlich im „Pantheon“ von W. R. Valeu-
tiner gewidmete Jubiläumsaufsatz machte es sich zur Auf-
gabe, in Verbindung mit der Chronologie der Werke des
Meisters sein Verhältnis zur künstlerischen Umwelt zu
klären. Über das heikle Problem, wer in den Beziehungen
des Künstlers zu seinen Zeitgenossen der Gebende und wer
der Nehmende war, ist sich der Verfasser wie die meisten
seiner Vorgänger fast stillschweigend klar geworden: na-
türlich schenkte die stärkere Persönlichkeit, also Vermeer.
Praktisch hat er damit sicher in der Mehrzahl der Fälle
recht. Daß aber bei blinder Befolgung dieser Regel die
Forschung leicht in eine Sackgasse geführt werden kann,
wollen die scharfsichtigen Beobachtungen eines nicht zünf-
tigen und doch berufenen Kunstforschers über die histori-
schen Voraussetzungen von Vermeers Kunst erweisen.

Auf die Frage, woher die einsam hohe Kunst Ver-
meers kam, ist bis heute noch keine befriedigende
Antwort gefunden worden. Den Gedanken an eine
Lehrzeit bei Carel Fabritius, den ein alter Vers nahe-
legte, hat man vielfach allzu bedingungslos verwor-
fen, der Einfluß Rembrandts ist ein sehr allgemeiner;
es blieb die schmale Berührung des großartigen Friih-
werkes „Diana mit ihren Nymphen“ im .Haag mit
einem sonst wenig beachteten Bild des Jacob van Loo
im Berliner Kaiser-Friedrich-Miiseum, das denselben
Gegenstand auf zum Teil so ähnliche Weise behandelt,
daß Vermeers Abhängigkeit von dem älteren Meister
für diesen Fall feststeht. Einer Lösung der brennenden
kunstgeschichtlichen Aufgabe glaubte der jüngst ver-
storbene Emil Orlik, der ein großer Vermeer-Lieblmber
war, nahe zu sein. Sein intuitiver Gedankengang hat
etwas so Überzeugendes, daß es ein Unrecht gegenüber
dem Heimgegangenen und der Wissenschaft bedeuten
würde, wollte man die geistvolle Anregung Orliks in
Vergessenheit geraten lassen.

Seine nicht mehr zu exakter Durchprüfung gelang-
ten Vermutungen kristallisierten sich um die Persön-
lichkeit des Malers Michael Sweerts, den man bisher
nach dem oben angedeuteten Prinzip kurzerhand als
Vermeer-Nachahmer betrachtete. Dieser ein bis zwei
Jahrzehnte ältere Künstler gehörte der römischen
Malerakademie an und hinterließ u. a. zwei aus Rom
im gleichen Jahre 1652 datierte Gemälde, die beide
Atelierinterieurs vorführen, und von denen sich das
bedeutendere im Rijksmuseum zu Amsterdam befindet.
Hier liegen gewisse Beziehungen zu Vermeer auch für
den minder Eingeweihten auf der Hand: die stark
verkürzte Fensterwand, mit der Vermeer so wunder-
voll geschaltet hat, ist als Element ebenso vorhanden
wie die ruhige Abschlußwand parallel zur Bildebene.
Daß der Vermeer so liebe Fliesenboden nicht fehlt, hat
wenig zu sagen, weil das Motiv der ganzen Zeit gehört.
Sehr beachtenswert ist aber, daß die sitzende Figur
eines Zeichners und die plastischen Bruchstücke, nach
denen die Kunstschüler ihre Studien machen, sehr

nahe an den vorderen Bildrand geschoben sind mul
darum sehr groß erscheinen, wie das bei Vermeer
häufig der Fall ist. Die einfachen, klaren Umrisse und
die großflächige plastische Behandlung der Figuren,
ihre gewisse monumentale Haltung erinnern gleich-
falls an Vermeer, vor allem aber die einzelne Teile der
Komposition heraushebende kontrastreiche Lichtfüh-
rung. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Bilder
von Sweerts, gerade was die koloristische Seite betrifft,
nur eine matte Ahnung des Vermeerschen Zaubers
enthalten, und daß ihr Maler überhaupt keine primär
schöpferische Natur war. Das bildet aber, wie zahllose
Analogien lehren, kein Hindernis, daß Vermeer sich
auf irgendeine Weise von Werken des Sweerts anregen
ließ. Wären die genannten Bilder zu diesem Zweck
wahrscheinlich zu spät gekommen — Vermeer wurde
bereits als Einundzwanzigjähriger 1653 Meister —, so
wäre doch auch vorher manche Möglichkeit der Be-
rührung theoretisch auszudenken. Woher aber kamen
Sweerts, dessen Werke übrigens früher zum Teil als
Arbeiten von Vermeer galten, die Ansätze zu so köst-
lichen Früchten?

Mit selbstverständlicher Freiheit und, des bin ich
überzeugt, grundsätzlich richtig unterschied Orliks
Malerauge auch den weiteren Zusammenhang: der
Große, dem Vermeer über Sweerts oder sei es
auch einen anderen Mittelsmann hinweg die Hand
reicht, ist der selbständigste und bedeutendste unter
den italienischen Barockmalern — Caravaggio. Bei
ihm finden sich sozusagen einige Urelemente des Ver-
meerschen Stiles in reiner Form: das Größenverhält-
nis der Figuren zum Bildganzen, ihre Bewegungslosig-
keit und monumental einfache Zeichnung, ihre faszi-
nierende Modellierung mit Hilfe des Lichts. Den
„Emaus“-Darstellungen Caravaggios ist Vermeers
Früliwerk „Christus bei Maria und Martha“ in der
ungekünstelt herben Auffassung verwandt. Das Motiv
der Lautenspielerin, wie es Caravaggio in dem Bilde
der Eremitage von Leningrad bringt, könnte ebenfalls
Vermeers Gestaltung des Einfigurenbildes beeinflußt
haben; auch der Typus der „Kupplerin“ in Dresden
würde durch eine ähnliche Annahme verständlicher.
Besonders eindrucksvoll aber ist m. E. der Vergleich
von Caravaggios „Reuiger Magdalena“ in der Galerie
Doria zu Rom mit dem „Schlafenden Mädchen“ Ver-
meers im New Yorker Metropolitan Museum; und zwar
wegen der vor die Figur geschobenen stillebenhaften
Dinge, die, großzügig angeordnet und gemalt, einen
breiten Raum einnehmen. Ich möchte sogar glauben,
wer weitergefaßte Beziehungen einfühlend zu er-
kennen vermag, dem wird schon im Kaiser-Friedrich-
 
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