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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,3.1910

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Heft 18 (2. Juniheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9021#0476
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Wiener Theater gezeigt und vor
einem Publikum erprobt zu haben,
das noch die Fähigkeit hat, sich
begeistern und tragisch erschüttern zu
lassen. Die Offizierstragödie „E in
halber Held" (Buch bei Reclam),
die aus der Sturm- und Drangzeit
des Dichters stammt, dampft noch
von überkochender Theatralik und
kann sich nicht genugtun in der
Anhäufung unglücklicher Zufälle
und verhängnisvoller Mißverständ-
nisse, um den Zuschauer durch im°
mer neue Wendungen und Span-
nungen rn Altem zu halten. Aber
durch all den jugendlichen Aber-
schwang spürt man doch: hier ist
ein Lharakter, hier ist ein Schicksal.
„Wovon sie leben, daran bin ich
gestorben. Ietzt ist es mir, als
ginge ich für meine Freiheit in den
Tod." Mit diesen von echt tragi-
scher Erkenntnis durchleuchteten
Worten nimmt Hauptmann Kurt
von der Kreith, der halbe Held, Ab-
schied von einer Welt, die für ihn
zu eng war. Anzufrieden mit sei-
nem Los im preußischen Gamaschen-
dienst, wollte er sein Heil im öster-
reichischen Heer suchen, wo es sein
Bruder schon zum General gebracht
hat. Noch hat er geschwankt, den
Abertritt zu vollziehen: da wird er
auch schon, der Spionage verdäch-
tig, in den Kerker gesteckt. Von
seinem Bruder befreit, geht er den-
noch nicht nach Ssterreich, sondern
kehrt nach Preußen zurück, um sich
vorerst vom Verdacht der Spionage
reinzuwaschen. Da jedoch der Schein
gegen ihn zeugt, wird er verurteilt
und erschossen. Kurt von der Kreith
ist vom Schlage des Prinzen
von Homburg und des Michael
Kohlhaas: ein Schwärmer, dessen
Tatendrang sich nicht unter das Ioch
militärischer Disziplin beugen läßt,
und dessen Rechtsgefühl, einmal ge-
kränkt oder verletzt, sich bis zum
Wahnsinn steigert. „Gerechtigkeit!

Ieder Mensch lebt von ihr wie von
der Sonne, und sperrt ihr sie ihm
ab, so wird er blind und irr." An-
verkennbar steckt Geist vom Geistc
Heinrichs von Kleist in dieser Offi-
zierstragödie, und wie sehr sie auch
von Lpisoden und selbstgefälligen
Sprachbildern überwuchert ist: mau
verliert doch nie die schön auf-
steigende tragische Linie aus dem
Auge. Daß sie nach dem kühn ge-
gipfelten vierten Akt jäh ins Melo-
dramatische, ins Nührstück abstürzt,
darf kein Grund sein, das Drama
als Ganzes zu verdammen und das
Kind mit dem Bade auszugießen.

An heiteren Gaben der grund-
sätzlich leichten Muse fiel auch noch
in diesen letzten Wochen derSpielzeit
quantitativ mehr ab, als sich quali-
tativ irgendwie rechtfertigcn ließ.
Nichts blieb uns erspart, was in
Berlin oder Paris einen halben oder
viertel Erfolg errungen hat, selbst nicht
die Turfkomödie „Kavaliere" von
Lothar und Saudek. Es scheint
aber, daß man hier doch einen bes-
seren Geschmack uud ein feineres
Taktgefühl hat als anderswo; denn
sie wurde hier kurzerhand ausge-
zischt. Von den im Deutschen
Volkstheater aufgeführten neuen
Einaktern wird vielleicht ein eiu-
ziger seinen Weg von Wien aus
machen: die tragikomische Groteske
„Talmas Ende" von Armin
Friedmann und Alfred Pol-
gar. An dem berühmten französi-
schen Schauspieler, bei dem Napo-
leon Unterricht in majestätischen Ge-
bärden genommen haben soll, wird
gezeigt, wie ein echter, Komödiant
sclbst noch auf dem Totenbette die
eitle Aberschätzung seines Metiers
nicht abzustreifen vcrmag, wie sein
Beruf noch in sein Sterben hinein-
spielt und ihm Schein und Wirk-
lichkeit verwischt. Man kann sich
den pshchologisch zugespitzten Scherz
plastischer ausgeführt vorstellen,

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