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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,1.1928-1929

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Heft 2 (Novemberheft 1928)
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https://doi.org/10.11588/diglit.8885#0167

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nina wirft sich unter den Zug, um
Leuknant Wronskis Karriere zu retten;
das heißt denn doch einen großen No-
man der Weltliteratur aus der Frosch-
perspektive betrachten. Menschen, die in
solcher optischen Zuschneiderarbeit den
Versuch sehen, dem „Volk" große
Dichtungen nahezubringen, toissen im
besten Falle nicht, tvas sie tun und sa-
gen — und doch verläßt auch der von
solcher silmischen Flickarbeit Abgestoßene
das Filmtheater nicht vhne Ergrisfenheit;
denn das Erlebnis einer Frauenerschei-
nung toie Grete Garbo, die sich eben
nur im Film darstellen kann, hat ihn
trotz der Widerstände gegen den Film
bis zum Ende festgehalten. — Nicht viel
anders steht es mit Josesine Baker, de-
ren körperliche Geschmeidigkeit auch noch
im Bereich jener tranigen und recht vor-
gestrigen Sentimentalität sich behauptet,
die das Wesensmerkmal des neuen fran-
zösischen Films „Papitou" ist. Solche
Filme hinterlassen im Zuschauer ein recht
ztviespältigeS Gesühl, das er sich ungern
ein zweites Mal bereiten wird: er hat
daS silmisch-opti'sche Erlebnis außer-
ordentlich wohlgeratener und unvergeß-
licher Menschen gehabt und doch dieses
Erlebnis mit einer Beleidigung seines
guten Geschmacks bezahlen müssen.
Unser guter Geschmack, unscr Augen-
sitin kommt in dem russischen Film „Das
Dorf der Sünde" gewiß auf seine Rech-
nung; die Szenen der Bauern am Tisch,
das russische Volksfest und vieles andere
smd von einer außergewöhnlichen bild-
nerischen Schönheit. Es wird durchweg
mit anständigen filmischen Mitteln gear-
beitet, und doch wird auch dieser Film
als Ganzes von keiriem höheren Bild-
und Filmgestaltungswilleu beherrscht —
ich spreche hier nicht von einem politi-
schen oder anderen Zweckgedanken —,
denn der ist hier vorhanden: der Film
mündet nämlich in eine Propaganda
für die neuen russischen Kinderheime auS.
Jm übrigen dreht sich dieser russische
Film um eine oftmals abgewandelte
Dorfintrige, ohne in der Art der Ge-
staltung dieser Jntrige auch nur die
Spur einer neuen bildnerischen Lösung
zu finden.

Ein Schlußvorschlag: Will der Film
nicht langsam aber sicher diejenigen Zu-
schauer aus seinen Häusern treiben, die
von ihm mehr wollen als ein Bilder-
gewirr für einige Verdauungsstunden, so

wird er sich entschließen müssen, dem
Beispiel der Theater zu folgen und seine
Lichtspieltheater nach Gattungen auszu-
scheiden; und wie wir heute nicht mehr
auf derselben Sprechbühne den „Amerika-
Seppl" und den zweiten Teil des
„Faust" erwarten dürfen, so könnte sich
auch im Film eine Methode heraus-
bilden, die den ernsten, aus künstlerische
Arbeit eingestellten Film und die vpti-
schen Ausdünstungen des Hintertreppen-
Romans in getrennten Häusern zeigt.
Auf solche Weise würde der Film, der
die unvergleichlichen Möglichkeiten ves
bewegten Bildes künstlerifch gestalten
will, von den Rücksichten und Konzes-
sionen frei, die ihn heute unheilbar ver-
derben. Eugen Gürster

ZPoch einmal: Chaplin

or einigen Monaten habe ich mich
hier mit Chaplin beschäftigt. Das
wurde für Axel Eggebrecht zum Anlaß,
mir in der „Literarischen Welt" vor-
zuwerfen, ich habe Chaplin in „fast
Miesbacher Stil" heruntergemacht.
Einen Brief, den ich daraufhin der
„Literarischen Welt" schrieb, hat diese
Zeitschrift nicht verösfentlicht; vhne
Angabe von Gründen. Jch frage
mich: ist es denn wirklich so, daß
man diesen Publizisten heiligste Gü-
ter anrührt, wenn man der Weltwirkung
eines hochbegabten ClownS gegenüber
ein positiveres Menschengefühl zur Gel-
tung bringt? Nur damit es eben auch
dasteht. Nur damit über all den drolli-
gen, sarkastischen Grimassen und Rand-
bemerkungen der Text nicht ganz ver-
gessen wird, das gerade und direkte
Wort des Menschenlebens, das doch
wohl die schnurrigen Randbemerkungen
und die katzbuckelnden Fußnoten erst er-
möglicht? Meine Ausführungen über
Chaplin haben diesen Künstler in die
ehrenvollste Reihe gestellt, die für ihn
überhaupt denkbar ist: in die Reihe der
volkstünilich-mimischen Figuren, dic über-
all das spezifisch flache und „kleine" Le-
ben vertreten gegenüber dem riskanten,
aber schöpferischen Einsatz von Geist
und Willen. DaS sind ewige Entgegen-
setzungen. Sie treten in heutiger Zeit in
bestimmten Abmessungen und Kräftever-
hältnissen voreinander hin. Wem ge-
schieht denn Weh oder Unrecht, wenn
einer zu sehen glaubt, daß die Vertre-
 
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