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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,1.1928-1929

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Heft 2 (Novemberheft 1928)
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Umschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8885#0168

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tung des „kleinen" Lebens sich zu weit
vordrängt, und wenn er daher vorsich-
tig ein Gewicht in die andere Schale
legt, in die Schale des Positiven?
Warum wird da (sür gewlsse Kreise) aus
einmal ein Wert sakrosankt, während rings-
um an allerlei Werten und Unwerten sröh-
lich herumgezaust wird wie an der
Wurst- und Bänderstange aus der Kir-
mes? Warum soll denn eine sanfte Kor-
rektur der Weltwirkung Chaplins eine
Tempelschändung sein, während Goethe,
Friedrich II„ Napoleon unter beifäl-
ligem Lächeln derselben Tempelwächter
zu Salat gemacht werden? Gut, diese
Tempelwächter sind der Meinung, daß
uns noch mehr Einläßlichkeit aus das
„niedere Leben" not tut, als wir bisher
schon bekundet haben. Sie sind einge-
setzt sür diese Sache; ich für eine
andre. Warum aber diese vernagelte
Meinungsstrammheit, die so gar nichks
von der geheimen Zuordnung des Geg-
ners zu wissen scheint? Es ist schade, daß
ein Blatt von den informatorischen Ver-
diensten der „Literarischen Welt" durch
seine Haltung bekundet: wer in bestimm-
ter Weise die positiveren Menschen-
gesühle vertritt, ist uns verdächtig.

W. M.

Öffentliche Sachlichkeit

(7<>m Bonner Beethovenhaus sieht man
^)ei'nige Gegenstände deS täglichen Ge-
brauches aus Beethovens Besitz. Da sind
ein Schermesser und ein Augenglas, grvb
in unedles Metall gesaßt; da sind serner
die Hörrohre von mancherlei Größe unö
Gestalt, kunstlos auS Messing gehäm-
mert und wie unförmige Nachtwächter-
hörner oder Hirkentrompeten anzusehen;
und da ist auch der glatte Stecken, dessen
eineü Ende er zwischen die Zähne nahm,
während das andere, auf den Deckel des
Flügels rührend, ihm mit seinem Er-
schwingen und Erzittern eine lebendige
Ahnung der Töne verschassen sollte, die
er hervorrief, aber nicht mehr vernahm.
Zum ersten Male begreift man ganz
und gar, wovon keine Anekdote, kein
Bildnis und keine Lebensgeschichte bis
dahin völlig zu überzeugen vermocht
hatte, daß dieser nicht eine Gestalt der
Sage war vder ein abtrünniger Seraph
oder sonst ein Geist, zwischen Himmel
und Erde schweisend, sondern wahrhaf-
tig ein Mensch. Hier sind die Krücken,

deren er bedurfte, weil er aus Stosf
von unseresgleichen gemacht war. Die
Erschütterung darüber ist keine geringe,
gleichviel vb sich nun unsere Vorstel-
lung vom Menschenwesen mächtig er-
höht, oder ob uns unser Elend nur hoff-
nungsloser erscheinen will.

Die Lebenden aber unter den schassenden
Künstlern geraten gemeinhin nur selten
in den Berdacht, eigentlich abgesallene
Engel oder Fürsten aus dem Reich der Dä-
monen zu sein. Vielleicht liegt es wirk-
lich daran, daß erst der Geist, der sich
für immer von Haut, Haar und Zähnen
geschieden hat, uns reiner und ver-
ehrungswürdiger erscheinen kann. Bei
aller schuldigen Achtung vermag zum
Beispiel der Anblick der Bergstiefel Ri-
chard Straußens oder des Borsalinos,
den Thomas Mann zu tragen pflegt,
nicht ohne weiteres zu erschüttern; man
weiß auch ohne dies fürs erste noch,
daß sie aus Menschenstoss gemachtsind.
Aber wie um ein klbriges zu tun, hat
die Berliner „Literarische Welt" neulich
eine Reihe von literarischen Berühmt-
heiten in einer Umsrage über gewisse
äußere Umstände und Bedingungen ihrer
Arbeitsweise befragt, und nun hat man
es wieder schwarz aus weiß, daß immer
nvch alles mit rechten Dingen zugeht.

Es drängt sich angesichts solcher Arr
von Wissensdurst die Erscheinung eines
Leutnants wieder auf, den die Produkte
des Gelegenheitspoeten unserer Abteilung
immer wieder in fassungsloses Erstaunen
versetzten. Ost versuchte er dann in
guten Stunden mit der Frage: „Sagen
Sie mal, wie machen Sie denn das
eigentlich, was?" in das Geheimnis die-
ser Kunst einzudringen. Der Poet er-
widerte etwas verlegen, daß er sich eben
hinsetze und... „Ach so," sagte dann
der Leutnant, „da setzen Sie sich einfach
hin und tunken ein und dann schreiben
Sie los, was? Na," schloß er dann,
sür einige Zeit völlig beruhigt, mit sei-
nem Lieblingslob, „Sie sind ja ein kolos-
saler Riese!"

Auch die Beantworter der Rundfrage,
wie sie sich aus ihren zum Teil mit wil-
liger Ausführlichkeit gegebenen Auskünf-
ten ergibt, „setzen sich eben hin". Der
eine früh am Tage, der andere spät, der
eine notiert sich etwas, der andere ver-
meidet es, manche rauchen dabei, andere
bevorzugen den Kaffee, viele sind nur
am gewohnten Schreibtisch vermöglich,
 
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