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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,1.1928-1929

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1929)
DOI Artikel:
Rosenstock-Huessy, Eugen: Vom Staat zum Stamm
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https://doi.org/10.11588/diglit.8885#0455

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die staaüich-riaäonale Kultur der NeuzeiL noch einmal überkragen. Die Groß-
staaten Europas und der Neuen Welt haben gewetteifert, das Stadkbild der
Antike in alle ihre Baukcn hineinzutragen.

Diese Epoche ist vergangcn. Und der vorübergehcnde Mensch, der in den moder-
nen „Erdteilen", wie wir bezeichnend sagen, in einer von seiner Technik vcr-
wandelten Nakur sich vorfindek, kann nur noch die ganze Erde als scin Haus
empfinden. Die größten Einzelstaaken sind bestenfalls Säle und Stuben in
diesem Hause der Erde. Und die steinernen Paläste der Schlösser, Nak-
häuser, Theater und Postämter sind allerhöchstens kleine Arabesken in ber
Tapete dieses Niesenerdhauses, das aus Gebirgen und Ebenen, Eisenbahnen
und Strömen, Meeren und Wäldern, Bergwerken und Flugzeuglinien sich
zusammenbaut.

Z. DieneuenIdeale

Die Jdeale des „vorübergehenden" Menfchen werdcn notwendig dort gesucht
werden müssen, wo das flüchtige, nomadenhafke Wesen des Menfchen sich
noch nicht durch eigene Bauten mit der Erde eingelassen haLLe, vor der Ent-
stehung desscn, was wir „Staat" nennen, also sowohl des StadLvolkes der
Antike in Athen oder Rom als auch erst recht der Staatsvölker und slkationen
des leHLen IahrLausends. Wo licgt also dies Idcal? Bevor das jüdifche Bolk
in Kanaan seßhaft wurde, zogen die zwölf Stämme in ber Wüste umher.
Bevor ein deutfcher StaaL sich bildeke, wanderken germanifche Stämme in das
Römifche Neich. Und die griechifchen Stämme, „froh vereint", trcsten sich in
Olympia von alters her, fchon lange vor der GlanzzeiL der griechifchen Polis.
Der Stamm also und seine Lebensform eignet sich als Ideal für den moder-
nen Nomaden.

Und so ist es denn in der Tat. llm das festzustellen, braucht man sich inir rinige
allgemein bekannte Vorgänge des AllLags zu vergegenwärtigen.

In immcr steigendem Maße wird zunächst das InLeresse an der Staaten-
gefchichte verdrängt durch die lcidenfchaftliche Teilnahme für die — NaLur-
völker. Der Sozialismus z. B. hat im breitesten Ausmaß die ErkennLnisse
der Ethnographie, dcr Völkerkunde seinem Progranun zugrunde geleat. 2lr-
beiter führen gern ihre Beweise durch Hinweisc auf Nüturvölkcr. Die Wis-
senfchaft der Soziologie lcbk zu einem erheblichen Tcil von dem SLudium der
„PrimiLiven" und der NiaLurvölker. Magie, Tokemismus, WeiberherrfchafL,
MutterrechL, Vielche, Kommunismus, Symbolik, Ei'nwei'hungsriLcn, Zahlen-
mystik, Totenzauber, diese und Lausend ähnliche Fragcn interessieren hcuk For-
fchcr und Laien viel mehr als eine antike Skakue oder ci'ne Ciceroniani'fche Rede.
Heinrich Schurz' Buch „AlLersklasscn und Männerbünde" von 1905, eine rein
völkerkundlichc UnLersuchung, hat mit einem Schlage die Iugendpsychologie,
die Pädagogik, die Soziologie beeinflußk. Die Iugendbewegung ist kaum ohne
das Buch denkbar: oder richtiger: das Buch fällt genau mit dem Aufbruch der
Iugend in die neue MenfchlichkciLsepoche hinein zusammen. Und das ist kein
Zufall, sondern eine Liefe GesctzmäßigkeiL. Schurz, Frazer, Merkandk, Mor-
gan, SchmidL, Winkhuis und allc die andern — sie richten ihre Llugen auf
eine bestimmte Menfchheitsstufe in dem Augenblick, in dem wir sclber dieses
neuen Spiegelbildes dringend bedürfen.

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