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Kunstwart und Kulturwart — 27,3.1914

DOI issue:
Heft 18 (2. Juniheft 1914)
DOI article:
Keyserling, Hermann: Indische Musik
DOI article:
Wolf, Gustav; Schultze-Naumburg, Paul: Stadtbaupflege
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.14289#0451

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ankern. — So empfanden, so begriffen die Inder, deren Gast ich war,
diese Musik. Die Vortragenden glichen Ekstatikern, die mit der Gottheit
kommunizieren. Rnd die Hörer lauschten mit der Andacht, mit der man
göttlicher Offenbarung lauscht.

Es war eine denkwürdige Nacht. In den hohen Saal, von altertümlichen
Gemälden behangen, paßten die edlen Gestalten der Tagores, mit den
feinen, durchgeistigten Gesichtern, in den malerisch gefalteten Togas, pracht-
voll hinein. Abanindronath, der Maler der Familie, ließ mich der Typen
gedenken, die einstmals Alexandrien geziert haben; Rabindranath, der
Poet, beeindruckte mich gar wie ein Gast aus einer höheren, geistigeren
Welt. Nie vorher habe ich so viel vergeistigte Seelensubstanz in einem
Manne verdichtet gesehen. . . . Nnd nun übersehe ich mit einem Blick
die indische Lebensgestaltung, die indische Weisheit und die indische Musik.
Diese Musik ist, im Vergleich zur unsrigen, monoton; oft umspannt eine
lange Komposition nur wenige Töne, oft ist es eine einzige Note, die
eine ganze Stimmung trägt. Das Eigentliche dieser Musik liegt an-
derswo, in der Dimension der reinen Intensität; da bedarf es keiner weiten
Oberfläche. — Auch die indische Metaphysik ist monoton. Sie spricht
immer nur vom Einen, ohne ein Zweites, in dem Gott, Seele und Welt zu-
sammenfließen, dem Einen, das aller Vielheit innerstes Wesen ist. Auch
sie meint ein rein Intensives, das Leben selbst, jenes letzte ganz Rn-
gegenständliche, aus dem die Gegenstände gleich Einfällen hervorgehen.
Vom Nicht-Extensiven nun ist in der Sprache der Extensität nur in Form
des Einen, Einfachen zu reden, das Extensive als solches interessiert diese
Weisheit nicht. Aber dieses Eine hat keine klarer erkannt als sie. —
And nun die Inder selbst. Auf das Wesenhafte allein bedacht, haben
sie der Erscheinung wenig Aufmerksamkeit zugewendet. Diese hat bald
vegetationsartig gewuchert, bald kümmerlich ihr Leben gefristet, ununter-
stützt vom bewußten Geist. So fehlt es der indischen Persönlichkeit auf-
fallend an Weite und Breite. Sie wirkt sogar im tzöchstfall als arm im
Vergleich mit gleichwertigen aus dem Westen. Dafür kennt sie Modulationen
in der Intensität, eine Mannigfaltigkeit in der Tiefendimension, wie
keine sonst. Von aller Lyrik dieser Zeit verkörpert die Rabindranath
Tagores die farbenreichste, farbenprächtigste Tiefe.

Herwann Graf Keyserling

Stadtbaupflege

^^s ist doch merkwürdig, wie rasch und wie eingreifend viele unserer
ED^Vorstellungen in den letzten Iahrzehnten verwandelt worden sind.
^^^Noch in unsrer Kindheit vor dreißig oder vierzig Iahren rief das Wort
Stadt in uns die Vorstellung von Baugebilden hervor, die im Mittelalter
oder im Barock geschaffen waren, und die so einheitliche und klar gedachte
Kunstschöpfungen bedeuteten, daß auch die Vorstellung von ihnen sofort
einheitliche und klare Formen annehmen konnte. Der dünne Ring von
unklaren, verworrenen Baugebilden, der sich damals erst sehr Leilweise
um den alten Kern der Städte legte, trübte das Bild noch nicht genug,
um die Vorstellung stark zu verwirren. Iahrzehnte kamen, Iahrzehnte
gingen, und mit dem Wachsen des Reichs, seiner Einwohnerzahl und
ihrer Betätigung wuchs das Neue riesenhaft und drückte die alten einheit-
lichen Stadtgebilde allmählich gänzlich beiseite, so daß wir heute, wenn

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