ohne Einfluß auf den Gesichtsausdruck, der ja beim Sänger ganz natür-
lich und unbewußt der Stimmung des Gesungenen sich anpaßt. Aber man
hätte es als stillos empfunden, wenn Mienenspiel, Kopfbewegung und
Körperhaltung die Wiedergabe zu einem gegenwärtigen Erlebnis gemacht,
den Sänger gewissermaßen als die in Rede stehende Person eingeführt
hätte. Verübelte man es doch Stockhausen, dem großen Schubert-Inter-
preten, wenn er bei der Stelle in den Müllerliedern „Hörst du, kein Wort"
leicht mit dem Fuß aufstampfte, und selbst der allgewaltige Ausdrucks-
künstler Albert Niemann, der dem Publikum souverän gegenübertrat, ver-
mied es im Konzertsaal, irgendwie zu „spielen". Erst der Neuzeit war es
vorbehalten, die Grenzen zwischen Podium und Bühne zu verwischen.
Der Subjektivismus der Modernen mit seiner Neigung, das Ich des
Künstlers in den Vordergrund zu drängen, kam der Bewegung entgegen.
Und seitdem das Lied ein öffentlicher Tummelplatz aller Gesangbeflrssenen
geworden, seitdem sich auch auf diesem ursprünglich dem Haus und der
Familie vorbehaltenen Gebiete ein Virtuosentum herausgebildet hat, ist
die Mimik im Konzertsaal heimisch geworden.
Angefangen hat es damit, daß man nicht mehr „von Noten" sang. Da-
durch ist von vornherein jede Konvention aufgehoben; der Vortragende fühlt
sich angeregt, unmittelbar auf die Phantasie zu wirken, zu dem tzörer in
eine mehr persönliche Verbindung zu treten. Nnsere Sänger nehmen nur
noch den Textabdruck ihres Programms zur tzand, und selbst dessen be«
dienen sich die wenigsten: ihr Ehrgeiz ist, alles „auswendig" zu singen.
Nun hat die Nnabhängigkeit von der gedruckten Vorlage unleugbar ihre
Vorteile. tzaltung und Ausdruck werden freier, das vorbereitende Studium
ist notgedrungen eingehender, intensiver. Aber die ästhetische Wirkung auf
den Zuschauer jedoch kann man verschiedener Meinung sein. Es gibt
Leute, die der Eindruck des „Lingelernten" stört, obwohl man natürlich
weiß, daß jeder, der öffentlich etwas vorträgt, seine Sache technisch und
gedächtnismäßig beherrschen muß. Mein alter Lehrer Friedrich Kiel fand
den Anblick eines Solisten, der aus dem Kopfe musiziert, während die
andern (begleitenden) von Noten spielen, unerträglich und lächerlich. tzeute
sind wir weniger empfindlich dagegen, schon weil die Macht der Gewohn-
heit bereits mitspricht. Aber von dem Augenblick an, wo das Notenblatt
aus der tzand des Sängers verschwand, war der Entfaltung der ganzen
Persönlichkeit freiere Bahn geschaffen.
Der Liedersänger, der auch nicht einmal mehr verstohlen in seine Noten
zu blicken brauchte, fühlte sich nun ganz als „Interpret". Eine Skala
neuer Möglichkeiten eröffneten sich ihm. Die Augen können blitzen,
schmachten oder schelmisch grüßen; der Mund kann lächeln und schmollen,
der Gesichtsausdruck alle Grade des Schmerzes oder der Freude annehmen;
die Körperhaltung kann herausfordernd, drohend, geknickt oder kokett-
geschmeidig sein. Die mimische Kunst des Konzertsängers blieb zwar von
der des Bühnensängers noch immer verschieden, aber sie brauchte ihr nicht
nachzustehen. Warum nicht auch sich bewegen? Wir sahen Künstler, die
auf dem Podium hin und her sprangen, andere, die das Publikum in
jedem Liede gleichsam apostrophierten. Wir kennen einen Meister des Lieder-
sanges, der den Kopf stolz und trotzig in den Nacken wirft und dann
wieder wie ein guter Onkel warnend und deutend den Zeigefinger erhebt.
Die Auswüchse einer solchen tzermeneutik zeigen am besten, wo die
Fehlerquelle zu suchen ist. Das Lied wie überhaupt das im Konzertsaal
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lich und unbewußt der Stimmung des Gesungenen sich anpaßt. Aber man
hätte es als stillos empfunden, wenn Mienenspiel, Kopfbewegung und
Körperhaltung die Wiedergabe zu einem gegenwärtigen Erlebnis gemacht,
den Sänger gewissermaßen als die in Rede stehende Person eingeführt
hätte. Verübelte man es doch Stockhausen, dem großen Schubert-Inter-
preten, wenn er bei der Stelle in den Müllerliedern „Hörst du, kein Wort"
leicht mit dem Fuß aufstampfte, und selbst der allgewaltige Ausdrucks-
künstler Albert Niemann, der dem Publikum souverän gegenübertrat, ver-
mied es im Konzertsaal, irgendwie zu „spielen". Erst der Neuzeit war es
vorbehalten, die Grenzen zwischen Podium und Bühne zu verwischen.
Der Subjektivismus der Modernen mit seiner Neigung, das Ich des
Künstlers in den Vordergrund zu drängen, kam der Bewegung entgegen.
Und seitdem das Lied ein öffentlicher Tummelplatz aller Gesangbeflrssenen
geworden, seitdem sich auch auf diesem ursprünglich dem Haus und der
Familie vorbehaltenen Gebiete ein Virtuosentum herausgebildet hat, ist
die Mimik im Konzertsaal heimisch geworden.
Angefangen hat es damit, daß man nicht mehr „von Noten" sang. Da-
durch ist von vornherein jede Konvention aufgehoben; der Vortragende fühlt
sich angeregt, unmittelbar auf die Phantasie zu wirken, zu dem tzörer in
eine mehr persönliche Verbindung zu treten. Nnsere Sänger nehmen nur
noch den Textabdruck ihres Programms zur tzand, und selbst dessen be«
dienen sich die wenigsten: ihr Ehrgeiz ist, alles „auswendig" zu singen.
Nun hat die Nnabhängigkeit von der gedruckten Vorlage unleugbar ihre
Vorteile. tzaltung und Ausdruck werden freier, das vorbereitende Studium
ist notgedrungen eingehender, intensiver. Aber die ästhetische Wirkung auf
den Zuschauer jedoch kann man verschiedener Meinung sein. Es gibt
Leute, die der Eindruck des „Lingelernten" stört, obwohl man natürlich
weiß, daß jeder, der öffentlich etwas vorträgt, seine Sache technisch und
gedächtnismäßig beherrschen muß. Mein alter Lehrer Friedrich Kiel fand
den Anblick eines Solisten, der aus dem Kopfe musiziert, während die
andern (begleitenden) von Noten spielen, unerträglich und lächerlich. tzeute
sind wir weniger empfindlich dagegen, schon weil die Macht der Gewohn-
heit bereits mitspricht. Aber von dem Augenblick an, wo das Notenblatt
aus der tzand des Sängers verschwand, war der Entfaltung der ganzen
Persönlichkeit freiere Bahn geschaffen.
Der Liedersänger, der auch nicht einmal mehr verstohlen in seine Noten
zu blicken brauchte, fühlte sich nun ganz als „Interpret". Eine Skala
neuer Möglichkeiten eröffneten sich ihm. Die Augen können blitzen,
schmachten oder schelmisch grüßen; der Mund kann lächeln und schmollen,
der Gesichtsausdruck alle Grade des Schmerzes oder der Freude annehmen;
die Körperhaltung kann herausfordernd, drohend, geknickt oder kokett-
geschmeidig sein. Die mimische Kunst des Konzertsängers blieb zwar von
der des Bühnensängers noch immer verschieden, aber sie brauchte ihr nicht
nachzustehen. Warum nicht auch sich bewegen? Wir sahen Künstler, die
auf dem Podium hin und her sprangen, andere, die das Publikum in
jedem Liede gleichsam apostrophierten. Wir kennen einen Meister des Lieder-
sanges, der den Kopf stolz und trotzig in den Nacken wirft und dann
wieder wie ein guter Onkel warnend und deutend den Zeigefinger erhebt.
Die Auswüchse einer solchen tzermeneutik zeigen am besten, wo die
Fehlerquelle zu suchen ist. Das Lied wie überhaupt das im Konzertsaal
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