Vom Heute fürs Morgen
Wir daheim
ls im August die vielen laub-
geschmückten Züge, die singen«
den Züge hinausrollten, als damals
Millionen Heimat, Familie und Be«
ruf hinter sich lassen mußten, er-
wachte auch in uns das heiße Ver«
langen, unser Leben von Grund auf
zu ändern und gleich jenen Außer«
ordentliches zu leisten in so außer«
ordentlicher Zeit. Ia, unser ganzes
bisheriges Tun schien uns mit einem
Male nichtig, zu sern den großen
Ereignissen, zu enge für wahrhafte
Opfer, zu üblich, zu kalt, zu geruh-
sam. Rnd so ergrifs uns eine förm«
liche Begierde nach ganz neuen
Tätigkeiten, möglichst nahe dem tzeere
und damit dem Kriege, möglichst
weitab von dem Gewohnten.
Was geschah nicht alles: A.niversi--
tätsprofessoren erboten sich zu Land«
briefträgerdiensten oder „wenigstens^
doch zum Elementarunterricht an
Volksschulen; Rechtsanwälte wollten
Brücken bewachen und Straßenpoli«
zei üben; Direktoren großer Aktien«
gesellschaften sah man vorübergehend
Pakete packen und Adressen schrei-
ben; junge Damen verließen die
Tennisplätze und Musikstunden, um
Früchte einzukochen und Kartoffeln
zu schälen; unzählige tzände beweg-
ten die ungewohnten Stricknadeln,
und vielerlei längst vergessene tzaus«
frauenkünste traten neu ans Licht;
wie denn überhaupt das heimische
Walten nach alter Frauenweise in
dieser Zeit, die auch die Mannes--
tugenden zu ihren Ouellen zurück«
führt, wiederum zu Ehren kam.
In den unteren Schichten aber
war die Anruhe längst nicht so groß,
obgleich die Äot dort vielfach schon
in den ersten Tagen mit schrecklicher
Grobheit auftrat. Fühlten sie das
Anerhörte weniger? O nein! In«
dessen, die Erschütterungen, die der
Krieg ihnen brachte, besser: die
Äberraschungen, betrafen mehr die
allgemeinen Vorstellungen vom Welt«
und Völkerleben, betrafen mehr die
bisherigen Ansichten, als die
bisherige Lebenssührung. Vor
allem jenes Gefühl des eigenen An«
werts, das viele der Besten in den
„geistigen" Berufen damals sogleich
ergriff und seltsam antrieb, sich neue
Aufgaben weitab zu suchen, blieb
den tzandarbeitenden völlig fern.
And mochten sie gleich mit einem
Schlage zu Hunderttausenden brotlos
werden, also entbehrlich scheinen, sie
sühlten doch (ohne sich's gleich be-
wußt zu machen): unser Anteil
an der Lrhaltung der Gemeinschaft
wächst jetzt, unsere oft so einfachen
Fertigkeiten sind gerad jetzt unersetz«
lich. Die Aniversitäten können schlie«
ßen, aber wenn die Ernte nicht her«
einkommt, sind wir verloren — das
Studieren und Fabulieren kann
unterbleiben, doch das Schmelzen
und Gießen, tzämmern und Graben,
Tragen und Schleppen ist für unsere
Erhaltung nun kaum weniger wich«
tig als das Schießen und Schla«
gen. . .
Es war wie bei einem Erdbeben:
die obern Stockwerke spüren das
Wanken viel deutlicher — alle stür«
zen treppab und hinaus auf die
Gasse, und die Feinsten werden leut«
selig, sobald nur der erste wilde
Schrecken vorbei. Aber man weiß,
daß anhaltende Beben selbst den
Furchtsamen schließlich gleichgültig
lassen und gerad der gewöhnliche
Mensch sich schnell ans Angewöhn«
liche gewöhnt. Als man drum merkte,
daß der Bau trotz seiner tzöhe die
Stöße doch aushält, gewann man
wieder „Vertrauen" und „Festigkeit"
und kehrte heim.
Wir daheim
ls im August die vielen laub-
geschmückten Züge, die singen«
den Züge hinausrollten, als damals
Millionen Heimat, Familie und Be«
ruf hinter sich lassen mußten, er-
wachte auch in uns das heiße Ver«
langen, unser Leben von Grund auf
zu ändern und gleich jenen Außer«
ordentliches zu leisten in so außer«
ordentlicher Zeit. Ia, unser ganzes
bisheriges Tun schien uns mit einem
Male nichtig, zu sern den großen
Ereignissen, zu enge für wahrhafte
Opfer, zu üblich, zu kalt, zu geruh-
sam. Rnd so ergrifs uns eine förm«
liche Begierde nach ganz neuen
Tätigkeiten, möglichst nahe dem tzeere
und damit dem Kriege, möglichst
weitab von dem Gewohnten.
Was geschah nicht alles: A.niversi--
tätsprofessoren erboten sich zu Land«
briefträgerdiensten oder „wenigstens^
doch zum Elementarunterricht an
Volksschulen; Rechtsanwälte wollten
Brücken bewachen und Straßenpoli«
zei üben; Direktoren großer Aktien«
gesellschaften sah man vorübergehend
Pakete packen und Adressen schrei-
ben; junge Damen verließen die
Tennisplätze und Musikstunden, um
Früchte einzukochen und Kartoffeln
zu schälen; unzählige tzände beweg-
ten die ungewohnten Stricknadeln,
und vielerlei längst vergessene tzaus«
frauenkünste traten neu ans Licht;
wie denn überhaupt das heimische
Walten nach alter Frauenweise in
dieser Zeit, die auch die Mannes--
tugenden zu ihren Ouellen zurück«
führt, wiederum zu Ehren kam.
In den unteren Schichten aber
war die Anruhe längst nicht so groß,
obgleich die Äot dort vielfach schon
in den ersten Tagen mit schrecklicher
Grobheit auftrat. Fühlten sie das
Anerhörte weniger? O nein! In«
dessen, die Erschütterungen, die der
Krieg ihnen brachte, besser: die
Äberraschungen, betrafen mehr die
allgemeinen Vorstellungen vom Welt«
und Völkerleben, betrafen mehr die
bisherigen Ansichten, als die
bisherige Lebenssührung. Vor
allem jenes Gefühl des eigenen An«
werts, das viele der Besten in den
„geistigen" Berufen damals sogleich
ergriff und seltsam antrieb, sich neue
Aufgaben weitab zu suchen, blieb
den tzandarbeitenden völlig fern.
And mochten sie gleich mit einem
Schlage zu Hunderttausenden brotlos
werden, also entbehrlich scheinen, sie
sühlten doch (ohne sich's gleich be-
wußt zu machen): unser Anteil
an der Lrhaltung der Gemeinschaft
wächst jetzt, unsere oft so einfachen
Fertigkeiten sind gerad jetzt unersetz«
lich. Die Aniversitäten können schlie«
ßen, aber wenn die Ernte nicht her«
einkommt, sind wir verloren — das
Studieren und Fabulieren kann
unterbleiben, doch das Schmelzen
und Gießen, tzämmern und Graben,
Tragen und Schleppen ist für unsere
Erhaltung nun kaum weniger wich«
tig als das Schießen und Schla«
gen. . .
Es war wie bei einem Erdbeben:
die obern Stockwerke spüren das
Wanken viel deutlicher — alle stür«
zen treppab und hinaus auf die
Gasse, und die Feinsten werden leut«
selig, sobald nur der erste wilde
Schrecken vorbei. Aber man weiß,
daß anhaltende Beben selbst den
Furchtsamen schließlich gleichgültig
lassen und gerad der gewöhnliche
Mensch sich schnell ans Angewöhn«
liche gewöhnt. Als man drum merkte,
daß der Bau trotz seiner tzöhe die
Stöße doch aushält, gewann man
wieder „Vertrauen" und „Festigkeit"
und kehrte heim.