Vom tzeute fürs Morgen
Schöpftrngszeiten
an spricht jetzt viel von den
Seelen der Völker. Von der
„geheirnnisvollen russischen Seele".
So auch von der deutschen. Was
ist das? Ist es ein bildlicher Aus-
druck für die Gesamtheit aller See-
len der Deutschen? Oder — da die
ja sehr verschieden empfinden —
eine Bezeichnung für den Durch-
schnitt des deutschen Empfindens?
Zweierlei fühlen wir mit großer
Kraft. Linmal, daß es sich um mehr
als ein Bild handelt. Um ein in
unser aller tiefstem Gemüt erfühl-
bares Wirkliches, an dem ein jeder
von uns einen kleineren oder grö-
ßeren Anteil hat. Rnd dann, daß es
nichts mit irgendeinem Durchschnitt
zu tun hat. Es ist etwas, das sich
am reinsten in den Besten unter
uns als seinen deutlichsten Aus-
gestaltungen offenbart, im Durch-
schnitt sehr wenig, dennoch in nie-
mandem gar nicht.
Ieder fühlt es; jeder fühlt, daß
es auch im andern ist, daß er es da
in irgendeiner Stärke voraussetzen
darf. Trotzdem: jeder, wenn er es
bezeichnen soll, fühlt sich versucht,
nach dem Edelsten zu greifen, das
er gerade noch versteht. Es ist ein
machtiges, weitspannendes Leben-
diges, an dem jeder in dem Maße
teil hat, als sein Geist für edlere
und echtere Einflüsse offen oder ver-
schlossen ist. Es dringt aus irgend-
einer Tiefe herauf, so hoch, als jeder
es in sich heraufdrangen läßt. Aus
einer Tiefe, von der wir nur fühlen,
daß sie irgendwie alles Mächtigste
birgt, das uns „beseelt", und das
irgendwie mit dem zusammenhängt,
was wir Gott nennen.
Da dieses erfühlte, nicht nenn-
bare Tiefste im geistigen Leben eines
Volkes jedem Volksgenossen in
irgendeinem Maße einwohnt, so ist
es auch in allen gemeinsamen tzand-
lungen des Volkes. Aber je nach
der Art dieser Volkshandlungen
wirkt es. Es wird leicht vom Grund-
schlamm menschlicher Gemeinheit ver-
schüttet — ganz oder doch so weit
daß nur eine leicht gefärbte Ge-
meinheit, die sogenannte Volks-
schwäche, sichtbar wird. Es kann
aber auch umgekehrt aufwachsen und
stark werden. Dann formt es seiner-
seits den Stoff des allgemein
Menschlichen zu charakteristischer
Volksart. Der innere Parteikampf
bei uns hat im Frieden kaum etwas
an sich, das wir als charakteristisch
deutsch gelten lassen möchten oder
müßten, als eine Offenbarung unsrer
Volksseele. tzöchstens daß die allge-
mein menschliche Zanksucht als
deutsche Rechthaberei und deutsche
Lehrhaftigkeit auffallen. Dagegen be-
rühren als Offenbarungen deutscher
Seele die Reformation, die Goethe-
zeit, die Befreiungskriege, die idea-
listische Philosophie. Die letztere nicht
als Wissenschaft, als die sie schlecht
ist, sondern als religiöser Äeuansatz,
der seinen Siegeszug erst noch an-
treten wird. ^
Es scheint, daß da, wo sich die
Gottheit in die Seelen der Völker
verzweigt, auch die Aufgaben an
die Völker verteilt werden, und daß
die Aufgaben so verzweigt und ver-
schieden sind, als die Schicksale der
Völker.
Genauer betrachtet ist ja diese
Verzweigung und Verteilung nicht
etwas, das einmal geschah am An-
fang der Zeit, sondern das immer-
fort geschieht eben in unserm Schick-
sal.
Denn wir stellen es uns wohl
leicht so vor, als wären die Dinge
L82
Schöpftrngszeiten
an spricht jetzt viel von den
Seelen der Völker. Von der
„geheirnnisvollen russischen Seele".
So auch von der deutschen. Was
ist das? Ist es ein bildlicher Aus-
druck für die Gesamtheit aller See-
len der Deutschen? Oder — da die
ja sehr verschieden empfinden —
eine Bezeichnung für den Durch-
schnitt des deutschen Empfindens?
Zweierlei fühlen wir mit großer
Kraft. Linmal, daß es sich um mehr
als ein Bild handelt. Um ein in
unser aller tiefstem Gemüt erfühl-
bares Wirkliches, an dem ein jeder
von uns einen kleineren oder grö-
ßeren Anteil hat. Rnd dann, daß es
nichts mit irgendeinem Durchschnitt
zu tun hat. Es ist etwas, das sich
am reinsten in den Besten unter
uns als seinen deutlichsten Aus-
gestaltungen offenbart, im Durch-
schnitt sehr wenig, dennoch in nie-
mandem gar nicht.
Ieder fühlt es; jeder fühlt, daß
es auch im andern ist, daß er es da
in irgendeiner Stärke voraussetzen
darf. Trotzdem: jeder, wenn er es
bezeichnen soll, fühlt sich versucht,
nach dem Edelsten zu greifen, das
er gerade noch versteht. Es ist ein
machtiges, weitspannendes Leben-
diges, an dem jeder in dem Maße
teil hat, als sein Geist für edlere
und echtere Einflüsse offen oder ver-
schlossen ist. Es dringt aus irgend-
einer Tiefe herauf, so hoch, als jeder
es in sich heraufdrangen läßt. Aus
einer Tiefe, von der wir nur fühlen,
daß sie irgendwie alles Mächtigste
birgt, das uns „beseelt", und das
irgendwie mit dem zusammenhängt,
was wir Gott nennen.
Da dieses erfühlte, nicht nenn-
bare Tiefste im geistigen Leben eines
Volkes jedem Volksgenossen in
irgendeinem Maße einwohnt, so ist
es auch in allen gemeinsamen tzand-
lungen des Volkes. Aber je nach
der Art dieser Volkshandlungen
wirkt es. Es wird leicht vom Grund-
schlamm menschlicher Gemeinheit ver-
schüttet — ganz oder doch so weit
daß nur eine leicht gefärbte Ge-
meinheit, die sogenannte Volks-
schwäche, sichtbar wird. Es kann
aber auch umgekehrt aufwachsen und
stark werden. Dann formt es seiner-
seits den Stoff des allgemein
Menschlichen zu charakteristischer
Volksart. Der innere Parteikampf
bei uns hat im Frieden kaum etwas
an sich, das wir als charakteristisch
deutsch gelten lassen möchten oder
müßten, als eine Offenbarung unsrer
Volksseele. tzöchstens daß die allge-
mein menschliche Zanksucht als
deutsche Rechthaberei und deutsche
Lehrhaftigkeit auffallen. Dagegen be-
rühren als Offenbarungen deutscher
Seele die Reformation, die Goethe-
zeit, die Befreiungskriege, die idea-
listische Philosophie. Die letztere nicht
als Wissenschaft, als die sie schlecht
ist, sondern als religiöser Äeuansatz,
der seinen Siegeszug erst noch an-
treten wird. ^
Es scheint, daß da, wo sich die
Gottheit in die Seelen der Völker
verzweigt, auch die Aufgaben an
die Völker verteilt werden, und daß
die Aufgaben so verzweigt und ver-
schieden sind, als die Schicksale der
Völker.
Genauer betrachtet ist ja diese
Verzweigung und Verteilung nicht
etwas, das einmal geschah am An-
fang der Zeit, sondern das immer-
fort geschieht eben in unserm Schick-
sal.
Denn wir stellen es uns wohl
leicht so vor, als wären die Dinge
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