ist er in seinem Werk. Die junge Mutter, die ist da. Nein: was
sie innerlich sieht, ist da. Was sie innerlich durchgelebt hat, streift
durch uns selber in Erinnerungsbildern, die gesehn und gefühlt sind,
wie sie sie sah und fühlte, und mit denen also ihr Ich in uns e i n«
geht. Keine einzige Stelle, da wir im Zusammenhange des Mit-ihr-
Lrlebens auch nur durch ein Anklopfen aus der Dichterwerkstatt gestört
würden, obwohl doch ihr Ich vom Ich des Claudius erst Zeile für Zeile
geschaffen wird. Wenn das „Können" eines Dichters ein Zaubern-Können
ist, so hat Claudius hier das Zaubern vermocht.
Aber es sind auch noch besondre künstlerische Feinheiten in diesem Werk,
die der „Fachmann" bewundert, wenn er erst über den Glauben hinaus
ist, die Wege zum Fortschritt gingen immer nur durch die neueste Tür.
Das Gedicht ist, wie jedes echt lyrische gute, so wenig „fertig", wie ein ge-
drucktes Theaterstück oder einAotenband — „fertig" ist es erst, wenn ein guter
Sprecher (ach, gibt es wenige!) seine Knospen aus all ihrer Innigkeit
geruhsam aufblühen läßt. Crst vor dem tönenden Mondliede genießt
man recht, daß es nicht ein einziges Flickwort, nicht ein einziges gleich-
gültiges Wort, daß es nur „lebende" enthält. Gesattigt von Gefühl, kann
es die allergewöhnlichsten Wörter sogar in den Reim stellen, wie das
„kleben", ein Körnlein Humor dazu, und sie wärmen doch. Das Gedicht
ist ganz genau das Gegenteil von dem, was es scheint, bevor es einem
„aufgegangen" ist: von banal sowohl wie von rührselig und sentimental.
Ein Kennzeichen des Banalen ist, daß man über das Alltägliche nicht
hinauskommt. Ein Kennzeichen des Rührseligen, daß man im Rührenden
noch rührt. Ein Kennzeichen des Sentimentalen, daß man Worte braucht,
die von etwas gemütvoll beben, was nicht drin ist. Alles gerade um-
gekehrt, als hier.
/LZ sind nun hundert Iahre, ^smus omnia tua tseum portuus, daß du ver-
^blichen bist. Als ein alter tzerr in fremder Zeit hast du noch Rapoleons
tzeer über dein tzamburg kommen, hast ihn dann mit Roß und Wagen ge-
schlagen gesehn, hast du noch Leipzig und Waterloo erlebt und einen scheuen
Blick nach St. tzelena geworfen. Run ist wieder Krieg, heute grüßen wir nur
von ferne dein Grab, Unsterblicher. Du hast dir ganz sicherlich nicht gedacht,
daß man dich einmal zu denen zählen würde. Tut man's denn? Asmus,
manches von dir lesen nur noch recht wenige, und die es lesen, wirklich, denen
gähnelt es auch wohl dabei. Auch das hat redlich gedient, denn es diente
wirklich seiner Zeit, aber es mag sein, seine Zeit ist nun um. Es mag
sein — ich für mein Teil weiß das nicht, denn ich habe noch fast an allem
Freude, was du gabst, weil du es s o gabst. Manchmal aber ist es mir —
ja: als verwandeltest du dich und würdest plötzlich zur tönenden Feiertag-
seele des deutschen Volkstums. Richt oft, aber manchmal. Du hast ein
halbes Dutzend Gedichte aus dem Anbewußten heraus halblaut vor dich
97
sie innerlich sieht, ist da. Was sie innerlich durchgelebt hat, streift
durch uns selber in Erinnerungsbildern, die gesehn und gefühlt sind,
wie sie sie sah und fühlte, und mit denen also ihr Ich in uns e i n«
geht. Keine einzige Stelle, da wir im Zusammenhange des Mit-ihr-
Lrlebens auch nur durch ein Anklopfen aus der Dichterwerkstatt gestört
würden, obwohl doch ihr Ich vom Ich des Claudius erst Zeile für Zeile
geschaffen wird. Wenn das „Können" eines Dichters ein Zaubern-Können
ist, so hat Claudius hier das Zaubern vermocht.
Aber es sind auch noch besondre künstlerische Feinheiten in diesem Werk,
die der „Fachmann" bewundert, wenn er erst über den Glauben hinaus
ist, die Wege zum Fortschritt gingen immer nur durch die neueste Tür.
Das Gedicht ist, wie jedes echt lyrische gute, so wenig „fertig", wie ein ge-
drucktes Theaterstück oder einAotenband — „fertig" ist es erst, wenn ein guter
Sprecher (ach, gibt es wenige!) seine Knospen aus all ihrer Innigkeit
geruhsam aufblühen läßt. Crst vor dem tönenden Mondliede genießt
man recht, daß es nicht ein einziges Flickwort, nicht ein einziges gleich-
gültiges Wort, daß es nur „lebende" enthält. Gesattigt von Gefühl, kann
es die allergewöhnlichsten Wörter sogar in den Reim stellen, wie das
„kleben", ein Körnlein Humor dazu, und sie wärmen doch. Das Gedicht
ist ganz genau das Gegenteil von dem, was es scheint, bevor es einem
„aufgegangen" ist: von banal sowohl wie von rührselig und sentimental.
Ein Kennzeichen des Banalen ist, daß man über das Alltägliche nicht
hinauskommt. Ein Kennzeichen des Rührseligen, daß man im Rührenden
noch rührt. Ein Kennzeichen des Sentimentalen, daß man Worte braucht,
die von etwas gemütvoll beben, was nicht drin ist. Alles gerade um-
gekehrt, als hier.
/LZ sind nun hundert Iahre, ^smus omnia tua tseum portuus, daß du ver-
^blichen bist. Als ein alter tzerr in fremder Zeit hast du noch Rapoleons
tzeer über dein tzamburg kommen, hast ihn dann mit Roß und Wagen ge-
schlagen gesehn, hast du noch Leipzig und Waterloo erlebt und einen scheuen
Blick nach St. tzelena geworfen. Run ist wieder Krieg, heute grüßen wir nur
von ferne dein Grab, Unsterblicher. Du hast dir ganz sicherlich nicht gedacht,
daß man dich einmal zu denen zählen würde. Tut man's denn? Asmus,
manches von dir lesen nur noch recht wenige, und die es lesen, wirklich, denen
gähnelt es auch wohl dabei. Auch das hat redlich gedient, denn es diente
wirklich seiner Zeit, aber es mag sein, seine Zeit ist nun um. Es mag
sein — ich für mein Teil weiß das nicht, denn ich habe noch fast an allem
Freude, was du gabst, weil du es s o gabst. Manchmal aber ist es mir —
ja: als verwandeltest du dich und würdest plötzlich zur tönenden Feiertag-
seele des deutschen Volkstums. Richt oft, aber manchmal. Du hast ein
halbes Dutzend Gedichte aus dem Anbewußten heraus halblaut vor dich
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