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Die Ehe im Kontext der frühmittelalterlichen Gesellschaft
schlechtsverhältnissen scheint auch beim Inzest die kultische Dimension allein
nicht auszureichen, um das Phänomen hinlänglich zu erklären.
d) Neue Perspektiven
In diese Richtung soll nun weiter gearbeitet werden, indem der komplexen Vernet-
zung der Phänomene von zwei Seiten nachgegangen wird. Ausgangspunkte müs-
sen das verwandtschaftliche Denken des frühen Mittelalters ebenso sein wie die
Frage nach der Befleckung. Gerade angesichts der von Edmund Leach angestellten
Überlegungen kann es sinnvoll sein, die bislang im Hintergrund mitschwingende
Frage nach dem Geschlechterverhältnis in den Vordergrund treten zu lassen und
zu debattieren, inwieweit eine Gleichbehandlung der Geschlechter einen Aussage-
wert für das Thema von Inzest und Verwandtschaft besitzt. Diese Frage ist bislang
in der Forschung unberücksichtigt geblieben. Näherhin heißt das: Welche Personen
werden als verwandt angesehen - nur die Blutsverwandten oder auch die ange-
heirateten Verwandten? In welchem Verhältnis stehen reale zu spirituellen Ver-
wandten?^ Wird Verwandtschaft hauptsächlich über die männliche oder die weib-
liche Linie gedacht? Ließe sich ein weiterer Beleg erbringen, dass nicht erst im
Hochmittelalter, sondern bereits im frühen Mittelalter ein kognatisches Verwandt-
schaftsdenken vorherrscht - ein Phänomen, das von der französischen Forschung
schon länger betont wird^ und nun auch von Michael Mitterauer für die deutsche
Forschung herausgestellt worden isV -, kann es nicht allein die Frau sein, von der
eine mögliche Verunreinigung ausgeht. Selbst wenn es im übrigen Kontext der
frühmittelalterlichen Lebenswelt vornehmlich Frauen sind, die aufgrund der na-
türlichen Vorgänge von Menstruation und Geburt als kultisch befleckend gelten,^
müssen beim Inzest noch andere Erklärungen hinzutreten. Die Begründung muss
darüber hinaus im verwandtschaftlichen Denken als solchem liegen. Dann aber
stellt sich die Frage, wie es - über biologische und angeheiratete Verwandte hinaus
- sein kann, dass auch Paten nicht als Ehepartner zur Verfügung stehen. Grund-
sätzlich heißt das: In welchem Verhältnis stehen die Inzestvorschriften zum Ver-
wandtschaftsdenken des frühen Mittelalters und welche Schlüsse lassen sich dar-
aus für das Gesamtproblem ziehen?
Ziel der Analysen kann es demnach nicht sein, die Genese der frühmittelalter-
lichen Inzestvorschriften nachzuzeichnen, das heißt näherhin zu fragen, aus wel-
chen Traditionen sie sich speisen und seit wann welcher Personenkreis in den früh-
mittelalterlichen Texten als tabuisiert vorzufinden ist. Gleichfalls kann es nicht
darum gehen, auszuloten, wie und warum der Inzest ein so bedeutendes kulturü-
bergreifendes Problem darstellt. Beides ist in der Literatur auf vielfältige Weise ge-
31 Vgl. GuERREAU-jALABERT, Groupes de parente, S. 92-105; vgl. DiES. - LE JAN - MoRSEL, Fa-
milles, S. 4421; vgl. JussEN, Verwandtschaft.
32 Zur Forschungslage und ihrer Entwicklung vgl. DERS., Familie, S. 447-456.
33 Vgl. MiTTERAUER, Mittelalter, S. 160-186.
34 Vgl. ANGENENDT, Religiosität, S. 405.
Die Ehe im Kontext der frühmittelalterlichen Gesellschaft
schlechtsverhältnissen scheint auch beim Inzest die kultische Dimension allein
nicht auszureichen, um das Phänomen hinlänglich zu erklären.
d) Neue Perspektiven
In diese Richtung soll nun weiter gearbeitet werden, indem der komplexen Vernet-
zung der Phänomene von zwei Seiten nachgegangen wird. Ausgangspunkte müs-
sen das verwandtschaftliche Denken des frühen Mittelalters ebenso sein wie die
Frage nach der Befleckung. Gerade angesichts der von Edmund Leach angestellten
Überlegungen kann es sinnvoll sein, die bislang im Hintergrund mitschwingende
Frage nach dem Geschlechterverhältnis in den Vordergrund treten zu lassen und
zu debattieren, inwieweit eine Gleichbehandlung der Geschlechter einen Aussage-
wert für das Thema von Inzest und Verwandtschaft besitzt. Diese Frage ist bislang
in der Forschung unberücksichtigt geblieben. Näherhin heißt das: Welche Personen
werden als verwandt angesehen - nur die Blutsverwandten oder auch die ange-
heirateten Verwandten? In welchem Verhältnis stehen reale zu spirituellen Ver-
wandten?^ Wird Verwandtschaft hauptsächlich über die männliche oder die weib-
liche Linie gedacht? Ließe sich ein weiterer Beleg erbringen, dass nicht erst im
Hochmittelalter, sondern bereits im frühen Mittelalter ein kognatisches Verwandt-
schaftsdenken vorherrscht - ein Phänomen, das von der französischen Forschung
schon länger betont wird^ und nun auch von Michael Mitterauer für die deutsche
Forschung herausgestellt worden isV -, kann es nicht allein die Frau sein, von der
eine mögliche Verunreinigung ausgeht. Selbst wenn es im übrigen Kontext der
frühmittelalterlichen Lebenswelt vornehmlich Frauen sind, die aufgrund der na-
türlichen Vorgänge von Menstruation und Geburt als kultisch befleckend gelten,^
müssen beim Inzest noch andere Erklärungen hinzutreten. Die Begründung muss
darüber hinaus im verwandtschaftlichen Denken als solchem liegen. Dann aber
stellt sich die Frage, wie es - über biologische und angeheiratete Verwandte hinaus
- sein kann, dass auch Paten nicht als Ehepartner zur Verfügung stehen. Grund-
sätzlich heißt das: In welchem Verhältnis stehen die Inzestvorschriften zum Ver-
wandtschaftsdenken des frühen Mittelalters und welche Schlüsse lassen sich dar-
aus für das Gesamtproblem ziehen?
Ziel der Analysen kann es demnach nicht sein, die Genese der frühmittelalter-
lichen Inzestvorschriften nachzuzeichnen, das heißt näherhin zu fragen, aus wel-
chen Traditionen sie sich speisen und seit wann welcher Personenkreis in den früh-
mittelalterlichen Texten als tabuisiert vorzufinden ist. Gleichfalls kann es nicht
darum gehen, auszuloten, wie und warum der Inzest ein so bedeutendes kulturü-
bergreifendes Problem darstellt. Beides ist in der Literatur auf vielfältige Weise ge-
31 Vgl. GuERREAU-jALABERT, Groupes de parente, S. 92-105; vgl. DiES. - LE JAN - MoRSEL, Fa-
milles, S. 4421; vgl. JussEN, Verwandtschaft.
32 Zur Forschungslage und ihrer Entwicklung vgl. DERS., Familie, S. 447-456.
33 Vgl. MiTTERAUER, Mittelalter, S. 160-186.
34 Vgl. ANGENENDT, Religiosität, S. 405.