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Weber, Ines [Hrsg.]; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Ein Gesetz für Männer und Frauen: die frühmittelalterliche Ehe zwischen Religion, Gesellschaft und Kultur — Mittelalter-Forschungen, Band 24,1: Ostfildern, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.34905#0260

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VI.Inzest

245

4. Der Inzest im Kontext von Ehe und Verwandtschaft
des frühen Mittelalters

a) Der Inzest als Sonderlall der ehelichen Vergehen
Anders als die übrigen ehelichen Vergehen zählt der Inzest im frühen Mittelalter
nicht zu den ehelichen Delikten, weil er den Formvorschriften der Eheschließung
zuwider läuft oder gegen das Unauflöslichkeitsprinzip der ehelichen Gemeinschaft
verstößt. Stattdessen ist er im großen Kontext des Verwandtschaftsdenkens verhaf-
tet, sodass sich die Inzestvorschriften nur in einem speziellen Punkt innerhalb des
frühmittelalterlichen Eheverständnisses verorten: Da Verwandtschaft durch ritu-
elle Akte konstruiert wird, zu denen bekanntermaßen die Eheschließung ebenso
gehört wie die Patenschaft/^ muss auch das Inzestvergehen zwangsläufig eine
Rolle spielen. Für beide Institute - Eheschließung sowie Patenschaft - müssen je-
doch weder die Art und Weise der Begründung des verwandtschaftlichen Verhält-
nisses noch ihre Rechtsfolgen identisch sein. Schließlich haben diese Bündnisbezie-
hungen auch im Blick auf den Inzest unterschiedliche Auswirkungen.^ Denn
obwohl mit der Eheschließung eine bestimmte Form von Verwandtschaft begrün-
det wird, sind nicht alle Verwandten Tabupersonen für eine Heirat; vielmehr bildet
der tabuisierte Kreis nur eine Schnittmenge mit den leiblichen und angeheirateten
Verwandten aus, weil weniger Personen mit Heiratsverboten belegt sind als ver-
wandt gelten; auf Seiten der geistlichen Verwandten hingegen reicht der Inzest zum
Teil sogar noch ein Stück darüber hinaus, weil mehr Personen tabuisiert sind als
vom Band der geistlichen Verwandtschaft erfasst werden. Hinzu kommt, dass beide
Kreise zusammengenommen lediglich Teilmenge des großen Systems inzestuöser
Delikte sind, zu denen schließlich auch die Vergehen mit geistlich Geweihten zäh-
len.^ In allen übrigen Punkten jedoch unterscheidet sich die Beurteilung des In-
zestvergehens keineswegs von den anderen ehelichen Delikten. Das haben die
Überlegungen zum Status des Delinquenten ebenso gezeigt wie die Erörterungen
im Blick auf die Zustimmung verschiedener am Vergehen beteiligter Personen.
Wie verortet sich nun der Inzest im Gesamtsystem Verwandtschaft?

b) Vom Inzest zum frühmittelalterlichen Verwandtschaftsdenken
Im Akt der Eheschließung werden die Verwandten der Ehefrau zu cowsawgMmU
bzw. zu cogtMÜ. Sie werden den Mitgliedern der Geburtsfamilie qualitativ gleichge-
stellt. Im Blick auf den Inzest aber wirken sich derartige Verwandtschaftskonstruk-
tionen unterschiedlich aus. Für die Eheschließenden selbst scheinen sie überhaupt
nur für die nächsten Verwandten des Ehepartners von Bedeutung zu sein. Schließ-

284 Vgl. JussEN, Verwandtschaft.
285 Gleiches gilt für das Erbrecht; vgl. ebd.
286 Vgl. LuTTERBAcn, Sexualität, S. 169-172.
 
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