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Das neue Frankfurt: internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung — 5.1931

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Die neue Sachlichkeit griff, wenn auch uneingeftanden, ein und
fchuf den dokumentarifchen Film. Er verzichtet auf einen ge-
ftaltenden Eingriff in die fotografierten Tatfachen. Er nimmt fein
Material unretufchiert aus dem täglichen Leben. Die künftlerilche
Formung erfolgt durch Rhythmifierung bei der Montage. Auch im
Rohmaterial werden naturgegebene Rhythmen bevorzugt. Lieb-
lingsthema: Die Stadt und die Mafchinen. (Etwa: Deslay Marche
des machines, la nuit electrique, Montparnasse: Florey, Symphonie
des Grattes-ciel; in Deutfchland insbefondere Ruttmann u. a.)
Ähnliche Technik wie in der der Reportage zuneigenden Lite-
ratur führt hier wie dort zu einem meilt fragwürdigen Ergebnis
der Grenzenverfchiebung. Das für Archivzwecke zweifellos fehr
wertvolle filmifche Dokument wird in der künftlerifchen Fällung
immer mehr entfachlicht. Bald genügt nicht mehr die montierte
Rhythmik, und man lucht neue Blickpunkte. Das abfichtlich unkünft-
lerifche Rohmaterial wird durch die künftliche Perfpektive des
Objektives fubjektiv verändert. Es ift das Mißverftändnis : Die Sach-
lichkeit als künftleritches Stilprinzip, das flache Dach als Ornament.
Der S u r r e a I i s m u s, der in Frankreich eine bedeutende Rolle
fpielte, hat den vielleicht berühmteften franzöfifchen Avantgarde-
film hervorgebracht. „Chien andalou" i(t hergeffellt unter den
Aufpizien des Comte Beaumot von Bunuel. Der Film des fno-
biltifchen Paris. Sein Komparationsprinzip ift die Montage traum-
haft verfchobener Vorgänge. Realiltifche Einzelheiten unrealiltifch
verknüpft im Sinne einer fich auf Affoziationen, Wunfeh- und
Angftvorftellungen aufbauenden Traumlogik. Die Subjektivität
derartiger Zulammenhänge erfchwert dem Zufchauer das Ver-
ftändnis. Was vom Schöpfer als klare und einfache Gedanken-
verbindung empfunden wurde, erfcheint dem Zufchauer gewaltfam
aneinandergereiht, zumal die Vorgänge von der Perfönlichkeit
des Schöpfers abftrahiert wurden. Man hat dielen und ähnliche
Filme pfychoanalyfifch genannt. Diefe Bezeichnung ift irreführend.
Zweifellos wären diefe Filme, wie auch James Joyces „Ulyffes",
mit dem fie verwandt find, nicht ohne Freuds Anregung entftanden.
Diefe Werke ftellen jedoch nur die Zuftände dar, für die (ich der
Pfychoanalytiker intereflieren könnte, ohne daß aber eine analy-
tifche Deutung gegeben wird. Vielleicht foll man den „Chien
andalou" noch naiver befrachten und (eine Quellen mehr in den
Schauerlichkeifen des Grand - Guignol fuchen. Die erregende
Wirkung unheimlich vergrößerter Graufamkeit (des Unbewußten!)
ift auch der ftärkfte Eindruck, den dieler Film hinterläßt. (Typifche
Szenen: Großaufnahme eines menfehlichen Auges, das mit einem
Rafiermeffer zerfchnitfen wird. Großaufnahme einer Hand mit
einer tiefen Wunde, aus der Ameifen hervorkriechen. Darftellung,
wie ein Menlch (ich vorwärtsftürzen will, aber nicht kann: Die
Hemmung find zwei große geöffnete Konzertflügel, die er an
einem Seil nach fich ziehen muß; in den Tauen liegen zwei Priefter,
auf den Saiten zwei tote Efel, aus deren Mäulern Blut auf die Taften
fließt). Die Ungewöhnlichkeit des Inhaltes ift aber auch das einzig

Bemerkenswerte. Das Filmilche ilt belanglos, fchlechte Fotografie,
Dilettantismus im Technifchen. Auch die fchaufpielerifche Leiftung
ift mangelhaft, felbft wenn, wie im Koftüm, eine antiquierte über-
triebenheit beabfichtigt ift.

Merkwürdig genug, daß in der Umgebung niveaulofer Publikums-
produktion und fnobiftifcher l'art pour I'art-Spekulation eine Er-
fcheinung wie Rene Clair zu der vollkommenen Meifterfchaft
wachfen konnte, die in leinen Filmen dargelegt ift. Obwohl feine
Stummfilme im Kreis der Avantgardiften entftanden, hat er (ich
von allen Verfuchen, die dem Film von außen neue Impulfe geben
wollten, ferngehalten. Rene Clair kann auf das Experiment als
die Ausflucht einer zu geringen fchöpferifchen Potenz und auf jede
Einordnung in eine Stilclique verzichten, weil die Qualität feiner
Leiftung keiner Krücke bedarf. Rene Clair ftellt dem Publikum
keine Probleme, weil er fie felbft überzeugend lölt. Seine Über-
zeugungskraft ift fo überwältigend, daß das Neue in (einen Filmen
nie das Gefühl des Ungewohnten, des Fremden aufkommen läßt.
Seine Erfüllung des Tonfilmkunffwerkes ift vorläufig noch unüber-
troffen. „Sous les toits de Paris" brachte den erften Beweis der bis
dahin von manchem ernften Kritiker bezweifelten künftlerifchen
Berechtigung des Tonfilms. Der neue Film „Die Million" be-
(tärkt ihn und erweitert ihn fpeziell für die Gattung des Ton-
filmluftfpiels und der -operetfe. Seit Jahren hefjen amerikanifche
und deutfehe Produzenten diefes Genre zu Tode. Der einzelne
Lichtblick, den uns Lubitfchs „Liebesparade" verfchaffte, wird von
der Leuchtkraft diefes neuen Clair glänzend überftrahlt, und man
ift bereit, bei ihm allen Ärger zu vergeffen, den uns vordem die
deutfehe Fröhlichkeit vom „Liebeswalzer" bis zur euphemiftifch fo-
genannten „Großen Attraktion" bereitet hat. Die Einfälle, die jedes
kleinfte Detail formen, fließen ungekünftelf und unerzwungen in
einer Reichhaltigkeit, die bei einmaligem Sehen kaum in ihrem
ganzen Umfang wahrnehmbar ift. Man entdeckt immer wieder
neue Raffinements, neue Beziehungen, neue Feinheiten, da gibt
es immer wieder neue Wendungen, überrafchende Steigerungen.
Es ift kaum möglich, irgendwelche Szene hervorzugreifen. Nur
ein Beifpiel: Die Jagd nach dem Rock, in dem lieh die Million
befindet, ift auf dem Höhepunkt. Statt eines allgemeinen Geraufes
läßt Rene Clair den Kampf um den Rock zu einem Rugbyfpiel
werden. Sogar die fypifchen Geräufche einer tofenden Zufchauer-
menge, mit Pfeifen und Johlen, ertönen von der Leinwand. Diefes
Beifpiel ift kennzeichnend, wie Rene Clair alle Vorgänge in diefem
Film leicht Itililiert und rhythmifiert. Es ilt eine fehr freie, aber
immer bewußt geftalfete Form. In ähnlicher Weife fügt fich die
Mufik in die Gefamfkompofifion ein, befonders pointiert in einer
großartig angelegten Opernparodie und in den Szenen, in denen
eine Singftimme oder der Chor die innere Stimme verkündet.
Alles ilt auf die Heiterkeit der Menfchen konzentriert. Alles, was
nicht auf fie Bezug hat, wird nur angedeutet, wie etwa die Ein-
richtungen der Interieurs, die, loweit fie nicht unmittelbar in das

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