Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das neue Frankfurt: internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung — 5.1931

DOI Artikel:
Vogel, Martin: Das Ernährungsproblem in der Groszstadt
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.17293#0099

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
20

CHABESO-PAVILLON auf der Internationalen Hygiene-Aufteilung Dresden 1930 ■ Architekt
W. Chriftoph, Dresden ■ Chabeso Pavillion, International Hygienic Exhibition, Dresden 1930 • Pavillon
Chabeso ä l'Exposition internationale d'hygiene ä Dresde, 1930 ■ Phot. Dr. Reichow

DAS ERNÄHRUNGSPROBLEM DER OROSZSTADT

Von Prof. Martin Vogel, wiffenfch. Direktor des Deutfchen Hygiene-Muleums, Dresden

Die explofive Entwicklung der Städte im 19. Jahrhundert hat nicht nur die
Wohnweife, fondern faft mehr noch die Ernährungsweife großer Teile der
Bevölkerung in einem nie zuvor gehörten Ausmaß verfchoben. Vor dem
Krieg hatten wir im Deutfchen Reich 68 Millionen Einwohner, von denen
nur 18 auf dem Land lebten. Hundert Jahre früher wohnten von den 25 Mil-
lionen Bewohnern ebenfalls 18 Millionen, alfo dreiviertel einer viel kleineren
Bevölkerung auf dem Land. Auf dem Land, das heißt im Bereich der Urproduk-
tion: fie konnten alfo faft alles, was fie zu ihres Leibes Nahrung und Notdurft
brauchten, durch eigene Arbeit der Erde abgewinnen oder es doch auf
kürzeffem Weg unmittelbar vom Erzeuger erhalten. Aber auch die ftädtifche
Bevölkerung war räumlich noch nicht weit vom nahrungserzeugenden Boden
getrennt. Die meiften Städte waren kleine Landftädte. Nur 17 Städte in
Preußen wiefen um 1800 mehr als 10000 Einwohner auf. Selbft in den heu-
tigen Großftädten hatten noch unfere Großeltern nirgends mehr als 10 Minuten
zu gehen, um vom Kern der Stadt auf gewachfenen Boden zu gelangen.
Auch fpielte damals noch, vielerorts bis zur Jahrhundertwende hin, die Eigen-
erzeugung der Städte an Nahrungsmitteln eine nicht geringe Rolle: man
hatte Kühe und Ziegen, die vor dem Tor auf die Weide gehen konnten,
hatte Gänfe, Hühner und Schweine, oft in einem Maß, daß die Obrigkeit
gegen diefe „Schweinezucht" einfchreiten mußte, man hatte fein eigenes
Feld oder hatte wenigftens Gärten vor dem Tor, aus denen die Bürgerfami-
lien einen großen Teil ihres Bedarfs an Gemüfe und Obft deckten. Die
ärmere Bevölkerung aber konnte fich allerhand Nahrung, wie grüne Kräuter,
Wurzeln, Pilze, Nüffe, Beeren ufw., von Wiefe, Wald und Rain holen. Nur
beim Fleifcher, beim Bäcker, beim Spezereihändler („Kolonialwarenhändler")
holte man fich den täglichen Bedarf aus dem Laden.

Wo aber die eigene Erzeugung nicht ausreichte, da hatte man überall per-
fönliche Beziehungen zum Land und zuverläffige, oft durch Genera-
tionen vererbte Bezugsquellen. Wie viele von uns haben noch die Butter-
frau mit dem Korb auf dem Rücken erlebt, die Eierfrau, die Gemüfefrau, die
auch heute noch längft nicht ausgeftorbene Milchfrau, den Mann, der jedes
Jahr die Weihnachtsgans, den Bauern, der das Weißkraut und die Kartoffeln

71
 
Annotationen