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Das neue Frankfurt: internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung — 5.1931

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Vogel, Martin: Das Ernährungsproblem in der Groszstadt
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https://doi.org/10.11588/diglit.17293#0100

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in den Keller brachte. Denn auch das gehörte zum Bild der alten Verfor-
gungsweife: man hatte feine Vorräte im Keller. Unfere Mütter legten noch
felbft ihre Gurken, ihre Bohnen, ihr Sauerkraut, ihre Pflaumen ein. Heute
haben wir — von der herrfchafflichen Villa vielleicht abgefehen — keinen
brauchbaren Keller mehr, und waswir brauchen, kaufen wir alles
im Laden bzw. vom Händler. Hier liegt die entfcheidende Wendung,
die die Nahrungsverforgung in der Stadt, wie auch in den der ftädtifchen
Lebensform angeglichenen Aufjen- und Induftriebezirken genommen hat: die
mindeftens teilweife Eigenverforgung und Nahverforgung ift zur
ausfehliefjlichen Fremdverforgung und Fernverforgung, die Einzel-
verforgung zur Maffenverforgung geworden. Zwifchen Erzeuger und Verbrau-
cher haben fich mehr und mehr Handel, Verkehr und Induftrie als Mittler gefcho-
ben und haben aus ihrer Eigengefetjlichkeit heraus zwangsläufig eine Ver-
fchiebung zwifchen verfchiedenen Nahrungsmittelgruppen herbeigeführt,die
das Bild der täglichen Koft in wenigen Jahrzehnten vollftändig geändert hat.
Je weiter der Weg vom Erzeuger zum Verbraucher wurde, defto höher
wuchfen auch die Transportkoften, zumal für folche Nahrungsmittel, die im
Verhältnis zu ihrem Raumbedarf wenig Nährftoffe enthalten, nämlich Gemüfe
und Obft, und defto größer wurde auch die Gefahr des vorzeitigen Verder-
bens. Ebenfo zwangsläufig mußten andererfeits die konzentrierten, nährftoff-
reichen Nahrungsmittel die Oberhand gewinnen, die mit geringerem Raum-
bedarf den Vorzug größerer Haltbarkeit vereinen: Fleifch und Fleifchwaren,
Eier, Käfe, trockene Hülfenfrüchte, Getreide und Getreideerzeugniffe wie
Mehl, Graupen, Griefj, Reis, Teigwaren u. a. m., ferner Fett und Zucker.
Auch mußte natürlich die Konferve großenteils an die Stelle der frifchen
Erzeugniffe treten. Es macht fich hier diefelbe innere Logik geltend, die in
einem Land mit Alkoholverbot den Schmuggel von Schnaps lohnender
macht und damit größere Ausdehnung gewinnen läßt, als den mit Wein
und Bier.

Andere wirtfehaftliche Faktoren trieben die Entwicklung in der gleichen Rich-
tung weiter. Die rafch wachfende Gefreideerzeugung in den überfeelän-
dern, die Fleifcherzeugung in Argentinien ufw., aber auch bei uns felbft
(Schweineerzeugung) befchränkten fich nicht mehr nur, wie auf früheren
Wirtfchaftsftufen, auf die Deckung des vorhandenen Bedarfs, fondern die
Eigengeferjlichkeit der kapitaliftifchen Wirtfchaftsweife verlangte die Weckung
und Steigerung neuer Bedürfniffe zwecks Hebung des Abfarjes, und der
Ausbau des Verkehrs fchuf Hand in Hand mit der Entwicklung der Technik
die äußeren Möglichkeiten, um die Nahrungsmittel des Inlands und des Aus-
lands überall in großen Maffen billig auf den Markt zu werfen. So hat fich
der Anteil der Getreideerzeugniffe an der Gefamternährung, der fich bei
primitiven Völkern — abgefehen von den Reiseffern — feiten über 10 — 15%
zu erheben pflegt, auf 40 — 60% bei uns gefteigert. Der Fleifchverbrauch ift,

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GEMÜSEVERSORGUNG IM 14. JAHRHUNDERT.
Nach einer Miniatur. Foto des Deutfchen Hygiene-
Mufeums, Dresden ■ Vegetable supply in the 14th
Century. After a miniature • Approvisionnement
en legumes au 14e siede. D'apres une miniature

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