Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 5.1902/​1903

DOI Heft:
Heft 3
DOI Artikel:
Bosshart, Jakob: Salto mortale, [3]: Novelle
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.45536#0134

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
scbmieden: was wollte sie nun zunäcbst an-
scbakfen? wo es kaufen? wo anbringen?
Bnd war sie mit ibren Brojekten irn klaren,
so griff sie wobl zur Decker und krittelte ibr
ganzes Bocbdeutsck auf ein Blatt scbönen Brief-
papiers — sie batte sicb das nämlicbe aus-
gesuckt, clas sie einst als junge Braut ver-
wendet, rosafarbig und rnit Ooldscbnitt. 8ie
rnübte sieb ab, das köstlicbe Bapier rnit Mutter-
liebe ganz auszufüllen, uncl war untröstlicb, dass
das, was sie irn Bergen batte, ibr nie zu clen
Bingern uncl zu cler Beder binausbiefsen wollte.
Brug sie clann tags clarauf, wenn sie zur
Arbeit ging, clas 8cbreiben zur Bost, so erbob
sieb am 8cbalter ein Brägen uncl Kümmern:
ob clie Adresse und die Marke ibre Kicbtigkeit
bätten, ob die Bost die frerncle 8tadt aucb ganz
sicber fände, und in der frernden 8tadt das Oast-
baus zum „Widder" oder zur „Krone". Bnd
es kränkte sie, dafs der Angestellte sie entweder
angrinste oder anscknarcbte und rnit dern 8ckreib-
stück gerade so berzlos und gleicbgültig urnging,
wie init anderer Beute Briefsacben.
War sie in Aufregung, wenn sie ibre Briefe
scbrieb und absckickte, so witterte sie beirn
Brnpfang derjenigen ibres Bräutigarns. Bas
bäfslicbe Bild, das sie eine Zeitlang von ibrn in
sieb getragen, wurde nack und nacb, durcb den
Olücksscbimmer bindurcbgeseben, scböner und
freundlicber; ja, die gute Brau verlor nun wirk-
lieb ein 8tück ibres Bergens binaus in die
unbekannte, irrlabrende Weite, an den Mann,
der es rnit ibren Buben und rnit ibr selber so
redlicb rneinte, der das Olück rnit seinen weicben
und starken Bänden streicbelte oder würgte, bis
es sieb ergab. Was für eine Wobltbat batte
ibr der Birnrnel nacb dern entsetzlicben Mils-
gescbick in seiner Oestalt gesandt!
Irn Onglück war Brau 8eline dern Birnrnel
fast abtrünnig geworden, sie batte nicbt rnebr
zu Oott, sondern zu ibrern seligen Mann ge-
betet; jetzt kebrte sie zu dern Braucbe, den sie
als Kind geübt, zurück, und in den 8prücben,
die sie beirn 8cklafengeben bersagte, batte ibr
Dankbarkeitsgefükl fast nicbt Kaurn genug.
III.
Derweil durcbmals die kleine Künstlergesell-
scbaft auf unstetern Zickzackwege ganz 8üd-
deutscbland. In allen 8tädten und 8tädtcben
wurden nacb und nacb buntfarbige Blakate an

die Mauern geklebt, auf denen in grofsen Bucb-
staben 8ignor Brcole die Bratelli ^.rrigo und
Brescbino Zobelli, die grössten und kleinsten
Kopsäquilibristen der Welt, einern löblicken
Bublikurn zur Beacktung ernpfabl.
Der Beiter der kleinen Oesellscbaft war wie
aus Bisen gedrebt, wie jene Drabtseile, die,
zäb und gescbmeidig zugleicb, ganze Bäder-
werke und Bauten von Menscben in keberndes
Beben versetzen. Br taucbte in allen Kedaktions-
stuben auf, ein Breibillet in der einen Band und
ein Bündel Zeitungen in der andern, und es
gescbab selten, dafs er das Bureau verliess, obne
einen der Berren für seine 8acbe interessiert
zu baben. Br verstand das Qescbält der Keklame
treiflicb und wusste überall rnit seinern scbarfen
^.uge die Basten zu entdecken, auf die rnan
drücken muss, urn die Orgelpfeifen der Bresse
erscballen zu lassen.
Bür seine kleinen Künstler war er besorgt
wie eine Oluckbenne für ibre jungen. Br wuscb
und kärnrnte sie selber, bürstete ibre Kleider,
liess ibnen kräftige Babrung und reicblicben
8cblaf zu teil werden, sab zu, dass nicbts ibnen
die Breude an dern Künstler-Wanderleben ver-
kümmerte. Breilicb mussten die Kleinen sicb
nocb mebr rübren als zu Bause; sie wurden
mit der Beitscbs des Bkrgeizes und der Kubm-
sucbt in ibrer Kunst stets vorwärts und böber
binaus getrieben und fanden so wenig Zeit, sicb
nack der Mutter und dem Bause zum „8ack"
zurückzusebnen, kaum im Bette vor dem Bin-
scklafen, denn da waren sie meistens so müde,
dass mitten im Abendgebet der 8cklummer sie
zudeckte. Wo es einzuricbten war, liess 8ignor
Brcole die beiden Knaben wie zu Bause im
nämlicben Bette scblafen; da nabm dann Beinz
des Bruders Band in die seine, damit er sicb
in dem wildfremden Kaum nickt iürcbte, und
so scbliefen sie ein, mit einem Wort des „Idnser
Vater" auf den Bippen, mit einem Oedanken an
die Mutter in der Brust, selten mit einer beimwek-
erfüllten Bbräne in den Wimpern.
^eden Morgen erinnerte sicb Beinz beim
Brwacken an die Brmabnungen der Mutter. Br
ricbtete sicb so bekutsam, als er konnte, im
Bette empor und scbaute dem Bruder ins rubige,
rotwangige Oesickt, und ein Breudensckauer
durcblubr ibn, dass er so gesund und irisck und
scbön neben ikm den ^tem einzog. Br wartete
still, bis Branzli die ^ugen öffnete, um sicb sab

95
 
Annotationen