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überwiegt. Da sie das Kindchen stillt, trägt sie den Namen der »Madonna del latte«.
Sie hält es, indem sie die Linke, deren eleganten Rücken man sieht, unter das Gesäß,
die aus dem Mantel kommende Rechte auf seinen Rücken legt, und gibt ihm die
rechte, gut entwickelte, runde (nicht altertümliche spitze) Brust. Nase und Oberlippe
sind lang, die Augen für die Zeit langgeschlitzt, der Mund groß. Das mit einem
roten Tuche über dem Hemdchen bekleidete Kind hat einen unförmlichen dicken
Kopf, der auf sehr dickem kurzen Halse aufsitzt, wo er eine tiefe Wulstlinie bildet.
Indem die rechte Hand die Brust zum Munde führt, wird der halbe Nacken entblößt
Bloß sind auch die kurzen Unterschenkel und die in die Höhe gekehrten Strampel-
füße, die durch ihre Kleinheit auffallen. Da alle diese karakteristischen Merkmale auf
den von Arkuzzo gezeichneten Tafeln in Aversa wiederkehren, so ist an seiner Ur-
heberschaft nicht zu zweifeln, und es ist nur zu bedauern, daß sich das einzige von
ihm in Neapel erhaltene Werk in diesem traurigen Zustande befindet.
XVII
Wahrhaft erfrischend ist es, wenn man aus diesem Wust minderwertiger Werke in
wenig ansprechender Umgebung wieder zu wirklichen Kunstwerken kommt Diesen
Anspruch können die viel besprochenen und doch in weiteren Kreisen fast ganz un-
bekannten Fresken des Platanenhofes von S. Severin und Sosio erheben1).
Sie sind bemerkenswert wegen der Stelle, an der sie sich befinden, wegen der
kunstgeschichtlichen Fragen, die sie hervorrufen, und wegen ihres künstlerischen Wertes,
der sie zu dem letzten großartigen malerischen Freskenwerk Neapels stempelt. Seitdem
hat ihm die Stadt mit der einzigen Ausnahme der Kirche von S. Martin nichts Eben-
bürtiges mehr an die Seite zu stellen2).
1) Der Weg dahin ist wie so oft in Neapel nicht leicht zu finden und schmutzig: aber
er ist lohnend.
2) Natürlich ist manches untergegangen. Eins der größten Ereignisse der Zeit war
Ferdinands des Katholischen Besuch Italiens 1506—07. Vom 1. November 1506 bis
zum 4. Juni 1507 hielt er sich in Neapel auf. Die Vorrechte, die er dem Volke bei dieser
Gelegenheit verlieh, wurden niedergeschrieben, und die Bürgerschaft sandte Franz Bran-
kaleone damit nach Spanien. Bei der Rückkehr dieser Gesandtschaft nach Neapel im Jahre
1509 wurde »von der Hand eines vortrefflichen Meisters« (ottimo maestro) auf der Wand
des Kapitelsaals von S. Augustin, der seit 1495 nach der Niederlegung der Volkshalle
durch Alfons am 10. Dezember 1456 als Versammlungsort der Erwählten des Volkes diente,
der König auf dem Trone gemalt, wie er den Band mit den Vorrechten des Volks dem
Erwählten und den Konsuln, die vor ihm knien, überreicht, nebst einer lateinischen Inschrift
darunter, die an die Sendung Brankaleones erinnern soll. Schon gegen Ende des Jahrhunderts
war das Werk bereits etwas verdorben; d’En gen io und Celano erwähnen es nicht mehr.
Von den Klosterbauten ist nur noch der gotische Kapitelsaal übrig, der jetzt mit Tuchballen
eines Kaufhauses angefüllt ist; die Kirche selbst wurde 1641 nach den Plänen Bartel
Picchiattis erneut. Auch die ursprüngliche »Volkshalle« war ausgemalt und hieß daher
die Bilder halle (seggio pittato).
überwiegt. Da sie das Kindchen stillt, trägt sie den Namen der »Madonna del latte«.
Sie hält es, indem sie die Linke, deren eleganten Rücken man sieht, unter das Gesäß,
die aus dem Mantel kommende Rechte auf seinen Rücken legt, und gibt ihm die
rechte, gut entwickelte, runde (nicht altertümliche spitze) Brust. Nase und Oberlippe
sind lang, die Augen für die Zeit langgeschlitzt, der Mund groß. Das mit einem
roten Tuche über dem Hemdchen bekleidete Kind hat einen unförmlichen dicken
Kopf, der auf sehr dickem kurzen Halse aufsitzt, wo er eine tiefe Wulstlinie bildet.
Indem die rechte Hand die Brust zum Munde führt, wird der halbe Nacken entblößt
Bloß sind auch die kurzen Unterschenkel und die in die Höhe gekehrten Strampel-
füße, die durch ihre Kleinheit auffallen. Da alle diese karakteristischen Merkmale auf
den von Arkuzzo gezeichneten Tafeln in Aversa wiederkehren, so ist an seiner Ur-
heberschaft nicht zu zweifeln, und es ist nur zu bedauern, daß sich das einzige von
ihm in Neapel erhaltene Werk in diesem traurigen Zustande befindet.
XVII
Wahrhaft erfrischend ist es, wenn man aus diesem Wust minderwertiger Werke in
wenig ansprechender Umgebung wieder zu wirklichen Kunstwerken kommt Diesen
Anspruch können die viel besprochenen und doch in weiteren Kreisen fast ganz un-
bekannten Fresken des Platanenhofes von S. Severin und Sosio erheben1).
Sie sind bemerkenswert wegen der Stelle, an der sie sich befinden, wegen der
kunstgeschichtlichen Fragen, die sie hervorrufen, und wegen ihres künstlerischen Wertes,
der sie zu dem letzten großartigen malerischen Freskenwerk Neapels stempelt. Seitdem
hat ihm die Stadt mit der einzigen Ausnahme der Kirche von S. Martin nichts Eben-
bürtiges mehr an die Seite zu stellen2).
1) Der Weg dahin ist wie so oft in Neapel nicht leicht zu finden und schmutzig: aber
er ist lohnend.
2) Natürlich ist manches untergegangen. Eins der größten Ereignisse der Zeit war
Ferdinands des Katholischen Besuch Italiens 1506—07. Vom 1. November 1506 bis
zum 4. Juni 1507 hielt er sich in Neapel auf. Die Vorrechte, die er dem Volke bei dieser
Gelegenheit verlieh, wurden niedergeschrieben, und die Bürgerschaft sandte Franz Bran-
kaleone damit nach Spanien. Bei der Rückkehr dieser Gesandtschaft nach Neapel im Jahre
1509 wurde »von der Hand eines vortrefflichen Meisters« (ottimo maestro) auf der Wand
des Kapitelsaals von S. Augustin, der seit 1495 nach der Niederlegung der Volkshalle
durch Alfons am 10. Dezember 1456 als Versammlungsort der Erwählten des Volkes diente,
der König auf dem Trone gemalt, wie er den Band mit den Vorrechten des Volks dem
Erwählten und den Konsuln, die vor ihm knien, überreicht, nebst einer lateinischen Inschrift
darunter, die an die Sendung Brankaleones erinnern soll. Schon gegen Ende des Jahrhunderts
war das Werk bereits etwas verdorben; d’En gen io und Celano erwähnen es nicht mehr.
Von den Klosterbauten ist nur noch der gotische Kapitelsaal übrig, der jetzt mit Tuchballen
eines Kaufhauses angefüllt ist; die Kirche selbst wurde 1641 nach den Plänen Bartel
Picchiattis erneut. Auch die ursprüngliche »Volkshalle« war ausgemalt und hieß daher
die Bilder halle (seggio pittato).