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Studien und Skizzen zur Gemäldekunde — 3.1917/​1918

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Nr. 4
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Frimmel, Theodor von: Vom Sehen in der Natur, Kunst und Wissenschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.52767#0139

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VOM SEHEN IN DER NATUR, KUNST UND WISSENSCHAFT.
Von Dr. Theodor v. Frimmel.
(Erster Vortrag', gehalten am 15. Oktober 1914 zugunsten des Roten Kreuzes.*)
Vor der erdrückenden Größe der Ereignisse, die wir jetzt alle mit-
erleben, flüchtet wohl manch einer für einige Stunden zu den ruhigeren
Erörterungen der Wissenschaft. — Vielleicht ist es Ihnen nicht unerwünscht,
die kurze Pause zwischen neuen und neuesten Nachrichten von den Kriegs-
schauplätzen mit derlei ruhigen Erörterungen auszufüllen.
Ich wählte als Gegenstand das Sehen, das jeder zu verstehen meint
und das doch in vielen Punkten noch unerforscht ist.
Wie das Sehen ist, muß jeder selbst wissen. Ein Blindgeborner hat
davon keine Ahnung, und erst durch viele Übung lernt er das Sehen, wenn
ihm späterhin ein gütiges Geschick das Augenlicht verschafft. Solche Geheilte
sehen anfangs weder Ebene noch Tiefe und müssen alles Räumliche erst
durch Beihilfe des Tastens kennenlernen.
Was das Sehen ist, läßt sich einigermaßen erläutern.
Wir kennen die äußere Sehvorrichtung, das Auge, wir kennen
die Nervenleitungen, die sich auf der Schädelbasis kreuzen und dann in
höchst mannigfacher Weise zur Großhirnrinde gegen das sogenannte
Sehfeld verlaufen. Dieses ist überaus verwickelt gebaut und dient, nach
allem zu schließen, was man weiß, dazu, die Eindrücke vom Auge her in
Bewußtsein umzusetzen. Das Sehfeld in der grauen Gehirnrinde gibt nur
Lichteindrücke, antwortet am stärksten zumeist nur auf Reize, die vom
Auge herkommen, jedoch auch auf Anregungen, die anderswo entstanden
sind, aber jederzeit nur mit Lichtempfindungen. Es gibt Menschen, die bei
bestimmten musikalischen Reizen Farben sehen, also durchs Hören eine Seh-
empfindung haben. Das ist das sehr selten vorkommende Farbenhören.
Die meisten Menschen haben eine genügende Vorstellungskraft,
um auch bei geschlossenen Augen und in völliger Dunkelheit Dinge sehen
zu können, an die sie sich erinnern. Wir brauchen diese Erinnerungs-
bilder fortwährend im Leben. Bildende Künstler brauchen die Vorstellungs-
kraft für Gesehenes in hervorragender Weise bei ihrem Schaffen. Der ge-
sunde Mensch, welchem Beruf er auch angehöre, spürt aber immer genau,
ob der Reiz zur Vorstellung von außen kommt, ob er durchs Auge und
den Sehnerven geht, oder ob er unabhängig davon durch Denkvorgänge
angeregt wurde. Er weiß genau, ob er sich an früher Gesehenes nur er-
innert, oder ob er neue Gesichtseindrücke hat. Das kann mit einem gewissen
Bewußtwerden der Bahnen Zusammenhängen, auf denen die Reize heran-
kommen, oder ist’s etwa die leiseste Bewegungsempfindung („Muskelgefühl“
und anderes) vom Auge her, das uns darüber belehrt, ob wir neu sehen, oder
uns nur an Gesehenes erinnern? [Auch beides könnte Zusammenwirken, das
dunkle Bewußtsein der beanspruchten Bahnen und der Reiz im Auge selbst,
*) Der zweite Vortrag, dieser behandelte „Bilderschicksale“, den ich zu dem-
selben Zweck im Herbst 1914 in Wiener-Neudorf gehalten habe, ist im II. Bd. der
Studien und Skizzen abgedruckt. Wie bei jenem Vortrag sind auch dem heute ab-
gedruckten mehrere Fußnoten und Einschaltungen in eckigen Klammern [ ] beigegeben.
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