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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 11
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Schreyer, Lothar: Kind und Kunst: [Mit 20 Zeichnungen]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0162

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Kind und Kunst
Lothar Schreyer
Das Problem Kind und Kunst wird uns klar,
wenn wir das Verhältnis zwischen dem
heranwachsenden und dem erwachsenen
Menschen betrachten. Im heranwachsenden
und im erwachsenen Menschen sind nämlich
die künstlerischen Kräfte auf verschiedene
Weise wirksam. Es ist dies abhängig von
der Entwicklung des menschlichen Bewußt-
seins. Im Heranwachsen entwickelt der
Mensch ein vierfaches Bewußtsein, das be-
zeichnet werden kann als ein vegetatives,
animalisches, intellektuelles und intuitives
Bewußtsein. Es kann gesagt werden, daß
diese vier Bewußtseinsformen nach einander
geboren werden, so wie zuerst der mensch-
liche Körper aus dem Mutterschoß geboren
wird. Immer klarere Bewußtseinsformen
offenbaren sich in diesem Körper. Im
kleinen Kind wächst das vegetative Bewußt-
sein in die Lebensform, im Schulkind das
animalische Bewußtsein, im Jugendlichen das
intellektuelle Bewußtsein, und erst im reifen
Menschen formt sich das intuitive Bewußt-
sein. Eingebettet in alle Bewußtseinsarten
ist schon das kleine Kind, aber erst im Laufe
des Lebens verkörpert es die Bewußtseins-
arten.
Die künstlerischen Kräfte strömen aus dem
intuitiven Bewußtsein. Die künstlerischen
Kräfte haben die Aufgabe, die Gesetze der
Intuition zu verkünden und an der Heran-
bildung des intuitiven Bewußtseins mitzu-
arbeiten.
Das kleine Kind hat noch nicht das intuitive
eigene Bewußtsein. Aber das Kind kommt
selbst aus der intuitiven Welt, ist noch von
ihr umhüllt, anstatt sie schon in sich zu
haben, es vermag sich dieser Welt zu er-

innern, kann sie aber noch nicht beherr-
schen. Das Kind steckt also noch drin in
der Intuition, weiß daher und kann daher
intuitiv sehr viel. Die Erinnerung an die
intuitive Welt ist fast ungehemmt, da die
dazwischenliegenden Bewußtseinsstufen noch
nicht erwacht sind. Die Erinnerung ist aber
auch beschwert, da sie nur durch den physi-
schen Körper wirkt. Aus der Hemmungs-
losigkeit entsteht der ungehemmte Reichtum
von Vorstellungen, den das kleine Kind hat.
Die noch außerhalb ruhenden intuitiven
Kräfte erweitern alles sogleich zum Weltbild.
Im physischen Körper wirken sie so, daß
sie den physischen Körper und die physi-
schen Zustände ordnen. Darum verkündet
das Kind in seinem Spiel die Gesetze der
Schöpfung. Die Kraft, die diese Gesetz-
mäßigkeit verkündet, ist die künstlerische
Kraft. Diese Kräfte wirken durch das Kind,
ohne vom Intellekt kontrolliert zu werden.
Das Kind weiß nicht, was es künstlerisch
tut, wenn es zu tanzen beginnt und die
rhythmischen Gesetze dabei erfüllt. Dieses
Nichtwissen drücken wir damit aus, daß wir
sagen: das Kind spielt. Was für das Be-
wußtsein des Erwachsenen die Kunstwerke
sind, sind für das Kind die Spiele. Die
Ordnung des Lebendigen wird im Spiel wie
im Kunstwerk verkündet und herangebildet.
Durch das Kunstwerk wird das intuitive
Bewußtsein gebildet. Durch das Spiel wird
das vegetative, animalische und intellektuelle
Bewußtsein gebildet. Der Mensch kann sein
intuitives Bewußtsein nicht bilden, ohne vor-
herige Bildung der anderen Bewußtseins-
zustände. Es ist also ein Irrtum, von Kinder-
kunst zu reden. Damit wird diesen Kinder-
schöpfungen nichts von ihrer Bedeutung
genommen. Es wird nur ihre Bedeutung
richtig erkannt. Auch das Verhältnis der
sogenannten Kinderkunst zur Kunst ist

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