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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 1/2
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Walden, Herwarth: Stillleben unterwegs
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0015

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Stilleben unterwegs
Herwarth Walden
In der dritten Klasse des Omnibus, so heißt
der französische Personenzug, seine Bänke
und Wände sind mit Leder gepolstert. In
Deutschland wird Wert darauf gelegt, daß
man die dritte Klasse füllt. Die Bahn fährt
von Mentone nach Nizza dicht am Mittelländi-
schen Meer entlang.
Auf der einen Seite zwei Engländerinnen.
Die eine sicht abwechselnd in die Landschaft
und den Baedeker. Sie ist sichtlich befrie-
digt. Der Baedeker stimmt. Die zweite Eng-
länderin hat sich französiert. Sic ist über das
gefährliche Alter hinaus, ißt Kastanien und
betrachtet interessiert ihre rosenholzfarbenen
Beine bis oberhalb des Knies. Und lächelt
durchaus zufrieden.
Neben ihnen frühstücken drei Soldaten. Der
eine hat sich ein Handtuch auf den Schoß
gelegt, Brot, Wurst und Käse mit einem
Dolchmesser vorbereitet, die anderen beiden
essen es ihm vom Schoß fort und gießen ihm
dafür Wein in den Mund. Die Engländerin
durch lachendes Lärmen in ihrer Selbstver-
zückung aufgeschreckt, betrachtet jetzt erfreut
so viel satte Männlichkeit. Die Soldaten,
wohl an bessere Sachen gewöhnt, strecken
sich gegenseitig aufeinander und versinken
im Verdauungsschlaf.
Auf der anderen Seite am Fenster sitzt leicht
indigniert ein Musiker. Jeder Zoll Versuch
zur Vornehmheit. Seit einer Stunde liest er
im Fachblatt den Artikel über das Recht von
Bezahlung von Uebcrstunden. Alle fünf Mi-
nuten ordnet er Haare und Kravatte. Seine
Augen mißbilligen das Verhalten der Sol-
daten.

Die Wagentür wird geöffnet. Ein gut ver-
packtes Bündel, das sie dreifach an Länge
und Dicke übertrifft, ruht auf den Armen
einer kleinen Französin, die hilflos zur Flöhe
des Abteils schaut. Der Musiker erhebt sich,
und zieht galant das Bündel in den Wagen.
Dankend und hastig klettert die Kleine nach,
und beide befördern das Bündel nach oben.
Die Engländerin mit dem Baedeker wirft
beleidigt durch die Proletarisierung der dritten
Klasse die Augen hinüber und die Tür zu.
Die andere Engländerin wippt mit dem rech-
ten großen Fuß jetzt dem Zivil zu. Dem
Künstler. Sic träumt von Troubadours. Von
französischer Galanterie.
Die kleine Französin mit dem jungen versorg-
ten Gesicht und den weichen verarbeiteten
Händen und den hellen dunklen Augen
nimmt den Hut ab und zieht Handschuhe an.
„Sie fahren auch nach Nizza“, lächelt der
Musiker.
„Und bis übermorgen muß ich schon liefern.
Fast beide Nächte muß ich arbeiten. Nicht
einmal zum Karneval kann ich morgen gehen.
Ist das nicht ungerecht?“
„Ihr müßt euch organisieren. Wir machen
jetzt auch nach jedem Stück zehn Minuten
Pause.“
„Aber wovon soll ich leben?“
„Dafür sorgt die Organisation. Lesen Sie
diesen Artikel.“
„Ich verstehe nichts Gedrucktes. Gehen Sie
morgen tanzen?“
„Wie kann man Sie solch schweres Bündel
tragen lassen. Mein Cello wird mir überall
hingebracht.“
Die Engländerin steht nun auf ihren Rosen-
holzbeinen und läßt das Taschentuch fallen.
Die kleine Französin hebt es auf.
„Sie spielen Cello“, schmeichelt sie dem
Musiker zu.

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