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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 12
DOI Artikel:
Walden, Herwarth: Die lebende Kunst
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Walden, Herwarth: Mordverdächtig
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0180

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Das ist der Expressionismus. Viele kennen
ihn vom Hörensagen, ohne zu hören. Alle
haben eine Ansicht über ihn, ohne zu sehen.
Etwas Einsicht für die Menschen und viel
Vorsicht für die Kunstkritiker ist nötig. Man
kann sich mit Kunst nicht befassen. Dieses
Tasten ist für Augen und Ohren unan-
gebracht. Und durch Nachsicht hat man
nur das Nachsehen. Mit dem einfachen
Sehen ist es viel einfacher.

Mordverdächtig
Herwarth Walden
Zweitens gibt es Erwachsene. Sie entstehen
durch Examen, Anstellung oder Heirat. Sie
dürfen alles, soweit es die Gesetze gestatten.
Wein, Weib und Gesang kneipen. Sich
ausleben. Rauchen. Wählen und zahlen.
Durch die Ernennung zu Erwachsenen haben
sie plötzlich alles vergessen, was sie erstens
gewesen sind. Kinder. Ihnen zu befehlen
und zu verbieten ist ein Hauptrecht von
Erwachsenen. Vor allem verbieten, was Ihnen
erlaubt ist. Endlich erlaubt ist. Diese Freude
steigert sich durch das Verbot für die, die es
noch nicht zum Examen, zur Anstellung oder
zur Heirat gebracht haben. Also Kinder sind.
Durch diese Regeln der Verwaltung und der
Wirtschaft werden Menschen zu Einrichtungs-
subjekten.
Richten heißt nicht strafen. Sonst würde
Strafen eben richten heißen. Wörter sind
klüger als die Menschen, die sie miß-
brauchen.
Dem Richter wird verziehen, daß er welt-
fremd ist. Er beschäftigt sich nicht mit
solchen Dingen, die Menschen treiben. Er
richtet nur über das Treiben der Menschen.

So einfach ist die Kunst. Aber so ein Fach
ist die Kunst nicht, daß man sie in einem
Teil des Gehirnschrankes unterbringt und
sich darauf beschränkt. Und wenn sich auch
in der Einfachheit, in der Beschränkung, erst
der Meister zeigt, ist man kein Richter des
Meisters, wenn man beschränkt ist.
Leben der Sinne. Sinn des Lebens.

Menschen dürfen nicht getrieben werden.
Menschen werden aber getrieben, weil sie
Triebe haben. Wenn sie keine Triebe haben,
sind sie eben keine Menschen. Aber nur
bei Blüten werden Triebe bewundert. Sogar
gepflegt. Bei Menschen werden sie aus-
gerottet. Blütentriebe werden gestützt.
Menschentriebe bestraft. Nicht gerichtet
Aber gerichtet.
Sexualität ist eine Eigenschaft, die sich erst
bei Erwachsenen zu zeigen hat. Primaner
sind vor dem Examen, also Kinder, nicht
nur ohne Recht, auch ohne Möglichkeit zur
Sexualität. Beides wird erst durch den
Besuch der Universität erworben. Diese Auf-
fassung haben Richter und Rechtsanwälte.
Wenigstens in ihrer amtlichen Tätigkeit.
Auch sechzehnjährige Mädchen haben nichts
von der Sexualität zu wissen oder sie zu
empfinden, wenn sie nicht zufällig schon
heiraten oder berufstätig sind. Auffassung
der Erwachsenen.
Im Mordprozeß Krantz trägt die sechzehn-
jährige Zeugin einen seidenen Jumper. Nicht
nur einen Jumper. Einen richtigen seidenen
Jumper. Die Richter bekreuzigen sich. Im
Mittelalter erschienen die Hexen nackt, wo-
durch man sie gleich als Hexen erkennen
konnte. Man weiß das durch Kunstbilder.

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