259
1904. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 9.
260
Abb.
Errungenschaften, vier- und sechsmalige Brief-
trägervisite, Telegraph und Telephon. Selbst
der Ozeanbefahrer, der seine Seele in die
weiten Wellen und den weiten Himmel tauchen
und für kurze Zeit dem Wirrsal entrinnen
wollte! die drahtlose Telegraphie verfolgt ihn
mit der unerläfslichen täglichen Portion auf-
regender und unange-
nehmer Nachrichten. O
Mensch, wie wirst du dem
Menschen lästig und uner-
freulich; auf den höchsten
Bergkämmen streuest du
aus deine leeren Flaschen
und Butterbrotpapiere,
deine Inschriften und Re-
klamen grinsen uns an aus
Firnregionen und Glet-
scherspalten.
Hauptsache bleibt ge-
wifs die versammelte Ge-
meinde, der gemeinsame
feierliche Gottesdienst;
aber wer empfand niemals
den Zauber heiliger Einsamkeit, wenn er in eine
verlassene Halle trat, wo nur dasTicken der Turm-
uhr sich hören liefs, das ewige Licht vor dem
Tabernakel das einzige bewegliche Wesen schien
und in der Stille die nur
scheinbar erstarrte Musik
der Säulen und Gewölbe
dem Geisterohr vernehm-
barwurde. Aber nach dem
Gottesdienste werden die
Gotteshäuser meistenteils
geschlossen und nur gegen
Trinkgelder vorgezeigt.
Und die Städte! wie ge-
langte man früher so bald
ins Freie; die Promenade,
die mit prächtigen Linden
besetzte ehemalige Fe- Abb- 3- Querschnitt,
stungsumwallung führte uns an die verschiedenen
Tore, durch welche wir in Feld und Flur und
Wald aufatmend hinauseilten; jetzt haben kilo-
meterlange Strafsen sich ihnen vorgelegt, die
man erst mit der „Elektrischen" durchsausen
mufs, um ins Freie zu gelangen. Oder es gab
heimliche prächtige Parkanlagen, die zwar dem
Publikum zu geböte standen, von diesem
liebenswürdigen Wesen aber nur in den ge-
selligen Nachmittagsstunden bevölkert wurden;
der Morgen war für die einsiedlerischen Na-
turen. Heine, der unartige Düsseldorfer, er-
zählt, wie er als Kind in der Morgendämme-
rung zum Hofgarten eilte, um dort ungestört
sein erstes Buch zu studieren, die Geschichte
des scharfsinnigen Junkers Don Quixote von
der Mancha: „Ich aber setzte mich auf eine
alte, moosige Steinbank in der sogenannten
Seufzerallee, unfern des Wasserfalles und ergötzte
mein kleines Herz an den
grofsen Abenteuern des
kühnen Ritters". Der Hof-
garten ist geblieben, aber
ein Häuserwall fafst ihn ein
und eine geschäftige Men-
ge durchkreuzt ihn zu
jeder Tageszeit.
Nur die Luft, wenn
auch mifsfärbt und getrübt
durch die Rauchplage,
blieb noch unerobert vom
Menschengewimmel.Zwar
ein einzelner Ballon wird
willenlos vom Winde da-
hergetrieben, aber der
systematische, lenkbare,
will sich noch nicht erfinden lassen und dem
gefesselten begegnet man nur auf Ausstellungen
und bei der militärischen Luftschifferabteilung.
Wer weifs aber, was bald geschieht, ob die trübe
Ahnung des sinnigen
Weinsberger Dichters sich
nicht erfüllen wird:
„Lafst satt mich schau'n in
diese Klarheit,
In diesen stillen, sel'genRaum,
Denn bald könnt' werden ja
zur Wahrheit
Das Fliegen, der unsel'ge
Traum;
Dann flieht der Vogel aus
den Lüften
Wie aus dem Rhein der Sal-
inen schon;
Und wo einst singend Lerchen
schifften,
Schifft grämlich stumm Bri-
tanniens Sohn."
dafs ich selber mit dem
phantastische Luftfahrt
es nicht leicht sein wird
Stelle zu landen.
Grundrifs [Teilkirche].
Abb. 4. Längenschnitt.
Ich fürchte aber,
geehrten Leser eine
riskiert habe und dafs
an der vorgeschriebenen
Aber die menschlichen Gedanken entwickeln
und verknüpfen sich oft auf ganz unerwartete
und unmotivierte Weise; wir wissen oft selber
nicht, von woher die Gedankenreise ausge-
gangen und wohin sie uns führen wird. Eine
begabte, grübelndeSchriftstellerin hat das neuer-
dings ausgesprochen in dem Satze: „Wir denken
nicht, es denkt in uns", mit anderen Worten,
1904. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 9.
260
Abb.
Errungenschaften, vier- und sechsmalige Brief-
trägervisite, Telegraph und Telephon. Selbst
der Ozeanbefahrer, der seine Seele in die
weiten Wellen und den weiten Himmel tauchen
und für kurze Zeit dem Wirrsal entrinnen
wollte! die drahtlose Telegraphie verfolgt ihn
mit der unerläfslichen täglichen Portion auf-
regender und unange-
nehmer Nachrichten. O
Mensch, wie wirst du dem
Menschen lästig und uner-
freulich; auf den höchsten
Bergkämmen streuest du
aus deine leeren Flaschen
und Butterbrotpapiere,
deine Inschriften und Re-
klamen grinsen uns an aus
Firnregionen und Glet-
scherspalten.
Hauptsache bleibt ge-
wifs die versammelte Ge-
meinde, der gemeinsame
feierliche Gottesdienst;
aber wer empfand niemals
den Zauber heiliger Einsamkeit, wenn er in eine
verlassene Halle trat, wo nur dasTicken der Turm-
uhr sich hören liefs, das ewige Licht vor dem
Tabernakel das einzige bewegliche Wesen schien
und in der Stille die nur
scheinbar erstarrte Musik
der Säulen und Gewölbe
dem Geisterohr vernehm-
barwurde. Aber nach dem
Gottesdienste werden die
Gotteshäuser meistenteils
geschlossen und nur gegen
Trinkgelder vorgezeigt.
Und die Städte! wie ge-
langte man früher so bald
ins Freie; die Promenade,
die mit prächtigen Linden
besetzte ehemalige Fe- Abb- 3- Querschnitt,
stungsumwallung führte uns an die verschiedenen
Tore, durch welche wir in Feld und Flur und
Wald aufatmend hinauseilten; jetzt haben kilo-
meterlange Strafsen sich ihnen vorgelegt, die
man erst mit der „Elektrischen" durchsausen
mufs, um ins Freie zu gelangen. Oder es gab
heimliche prächtige Parkanlagen, die zwar dem
Publikum zu geböte standen, von diesem
liebenswürdigen Wesen aber nur in den ge-
selligen Nachmittagsstunden bevölkert wurden;
der Morgen war für die einsiedlerischen Na-
turen. Heine, der unartige Düsseldorfer, er-
zählt, wie er als Kind in der Morgendämme-
rung zum Hofgarten eilte, um dort ungestört
sein erstes Buch zu studieren, die Geschichte
des scharfsinnigen Junkers Don Quixote von
der Mancha: „Ich aber setzte mich auf eine
alte, moosige Steinbank in der sogenannten
Seufzerallee, unfern des Wasserfalles und ergötzte
mein kleines Herz an den
grofsen Abenteuern des
kühnen Ritters". Der Hof-
garten ist geblieben, aber
ein Häuserwall fafst ihn ein
und eine geschäftige Men-
ge durchkreuzt ihn zu
jeder Tageszeit.
Nur die Luft, wenn
auch mifsfärbt und getrübt
durch die Rauchplage,
blieb noch unerobert vom
Menschengewimmel.Zwar
ein einzelner Ballon wird
willenlos vom Winde da-
hergetrieben, aber der
systematische, lenkbare,
will sich noch nicht erfinden lassen und dem
gefesselten begegnet man nur auf Ausstellungen
und bei der militärischen Luftschifferabteilung.
Wer weifs aber, was bald geschieht, ob die trübe
Ahnung des sinnigen
Weinsberger Dichters sich
nicht erfüllen wird:
„Lafst satt mich schau'n in
diese Klarheit,
In diesen stillen, sel'genRaum,
Denn bald könnt' werden ja
zur Wahrheit
Das Fliegen, der unsel'ge
Traum;
Dann flieht der Vogel aus
den Lüften
Wie aus dem Rhein der Sal-
inen schon;
Und wo einst singend Lerchen
schifften,
Schifft grämlich stumm Bri-
tanniens Sohn."
dafs ich selber mit dem
phantastische Luftfahrt
es nicht leicht sein wird
Stelle zu landen.
Grundrifs [Teilkirche].
Abb. 4. Längenschnitt.
Ich fürchte aber,
geehrten Leser eine
riskiert habe und dafs
an der vorgeschriebenen
Aber die menschlichen Gedanken entwickeln
und verknüpfen sich oft auf ganz unerwartete
und unmotivierte Weise; wir wissen oft selber
nicht, von woher die Gedankenreise ausge-
gangen und wohin sie uns führen wird. Eine
begabte, grübelndeSchriftstellerin hat das neuer-
dings ausgesprochen in dem Satze: „Wir denken
nicht, es denkt in uns", mit anderen Worten,