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Zeitschrift für christliche Kunst — 20.1907

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Moeller, Ernst von: Die Wage der Gerechtigkeit, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4119#0186

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291

1907. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 10.

292

Die Wage der

Fortsetzung.

jamit haben wir endlich die Höhe
erreicht, von der aus sich aliein
die Entstehung und Entwicklung
des Attributs verstehen und er-
klären läßt. Der Gott Augustins und die
Heilige Schrift sind dafür nicht das Entschei-
dende, wohl aber der Gedanke der ewigen und
göttlichen Gerechtigkeit, der an kein Volk und
keine Zeit gebunden ist.

An himmlischen Ursprung der Wage der
Gerechtigkeit haben manche in der Weise ge-
dacht, daß sie die Sache astronomisch auf-
faßten und in dem Attribut das Sternbild des
Tierkreises wiedererkennen wollten.

Asträa wurde von der griechisch-römischen
Theogonie zuweilen als Tochter der Themis
mit Dike identifiziert und als Jungfrau an den
Sternenhimmel in den Tierkreis verpflanzt. Ur-
sprünglich auf Erden unter den Menschen
lebend, zog sie sich im ehernen Zeitalter in
lichtere Regionen zurück, wie z. B. Ovid43)
mit den Worten bezeugt: „ultima caelestum
terras Astraea reliquit".

Seit alter Zeit wurde der Tierkreis, der
Zahl der Monate entsprechend, in zwölf Felder
eingeteilt. Die Reihenfolge der Bilder, wie
sie noch heute besteht, gibt bereits das alte
Distichon wieder:

Sunt aries, taurus, gemini, cancer, leo, virgo
Libraque, scorpio, acritenens, caper, amphora, pisces.

Aber wenn hier zwischen Jungfrau und Skor-
pion die Wage genannt wird, so ist das eine
Neuerung, die erst im späteren Altertum durch-
gedrungen ist. Bei Griechen und Babyloniern
soll das entsprechende Feld ursprünglich ent-
weder frei geblieben oder von den übergreifen-
den Skorpionsscheren ausgefüllt gewesen sein.
Dagegen sollen die Ägypter die Wage in den
Tierkreis eingereiht haben.4*) Schon danach
ist es gänzlich unwahrscheinlich, daß die Grie-
chen der Gerechtigkeit die Wage zum Attribut
gegeben haben sollten, weil zwar nicht im
griechischen, aber im ägyptischen Tierkreis
neben der Asträa-Dike-Jungfrau die Wage er-
scheint. Auf die zahlreichen Dunkelheiten und
Streitfragen, die heute noch in der Geschichte

43) Met. I, 150.

**) »Zeitschrift für christliche Kunst« XII. 1900.
Sp. 361 ff.

Gerechtigkeit.

der Tierkreisbilder bestehen,45) brauchen wir
aber hier um so weniger einzugehen, weil das
astronomische Zusammentreffen von Jungfrau
und Wage im Tierkreis, gerade wenn es sich
dabei um die Wage der Gerechtigkeit handeln
sollte, darüber hinaus auf andere geistigere Zu-
sammenhänge und Vorstellungen zurückweist.
Asträa galt den Griechen als eine an den
Himmel entrückte Göttin der Gerechtigkeit.
Wenn man unter diesen Umständen die Ent-
stehung des Attributs auf die himmlische Wage
des Tierkreises zurückführen will, so schiebt
man damit die Erklärung nur weiter hinaus,
und an Stelle der ersten Frage erheben sich
drei neue nach dem Woher, Warum und Wieso.
Ob zwischen dem Attribut und dem Tierkreis-
bild Beziehungen bestehen, können wir zunächst
auf sich beruhen lassen.

Die göttliche Wage, von der Augustin mit
Bezug auf die Heilige Schrift spricht, ist nicht
die Wage des Sternhimmels; sie.ist auch nicht
christlichen oder biblischen Ursprungs. Sie ist
eine Vorstellung, die längst, ehe Bibel und
Christentum entstanden, den Heiden geläufig
war. Ja, man kann fast sagen, der Gedanke
ist so alt wie das Menschengeschlecht. Mit
dem Glauben', daß über der Menschheit höhere
Mächte walten, erwacht die Idee, daß diese
Mächte die Menschen schufen, sie regieren und
sie einst richten werden. Die krasse Wirklich-
keit des Todes gibt der Phantasie Flügel und
schiebt zwischen die Gegenwart und die Zu-
kunft, zwischen das Diesseits und Jenseits das
Gericht. Jedem steht es bevor und jeder will
wissen, wie es dabei zugeht. Bis in alle Einzel-
heiten wird es ausgemalt. Der entscheidende
Vorgang aber in dieser Bildersprache, die vom
Glauben in die Wirklichkeit übersetzt wird, ist
stets die Seelenwägung.

Berühmt vor allem ist die Darstellung des
Totengerichts im ägyptischen Totenbuch.46)

46) »Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte«,
Jahig. 1897: Reuleaux, „Über Sinnbilder aus dem
Formenschatz der bildenden Kunst und ihre kunst-
geschichtliche Bedeutung".

46) N a v i 11 e, » Das ägyptische Totenbuch der XVIII.
bis XX. Dynastie« 1886. Einleitung p. 159 ff. I.
Taf. CXXXVI; Erman, »Ägypten und ägyptisches
Leben im Altertum« I. p. 417; Derselbe, »Die
ägyptische Religion«. 1905. p. 102 ff. 143; »Beschrei-
bung der Wandgemälde in der ägyptischen Abteilung
(der Kgl. Museen zu Berlin)«, herausgegeben von der
 
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