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Gast, Uwe; Rauch, Ivo
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Oppenheim, Rhein- und Südhessen — Corpus vitrearum medii aevi - Deutschland, Band 3,1: Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 2011

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https://doi.org/10.11588/diglit.52850#0217

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2l6

EHEMALS NECKARSTEINACH • PFARRKIRCHE

Die Werkstatt, in der die Farbfenster der Neckarsteinacher Pfarrkirche entstanden sind, muss über gute Kenntnisse
der Arbeiten der 1477-1481 bestehenden Straßburger Glasmaler-Kooperative um Peter Hemmel von Andlau verfügt
haben31: In technischer Hinsicht ist dies an der Art der Modellierung von Figuren und Architekturen zu erkennen,
die eine allgemeine Verwandtschaft mit den Verglasungen der Werkstattgemeinschaft im süddeutschen Raum zeigen;
aber auch Formen und Motive der rahmenden Architekturen dürften vor allem von dort angeregt worden sein,
so z.B. von den Arbeiten für Tübingen, Ulm oder Lautenbach32. Dabei ist zu betonen, dass die Werkstatt sich gegen-
über ihren mutmaßlichen »Vorbildern« ganz eigenständig verhielt, indem sie sie frei schöpferisch variierte, und aus
einem entsprechend freien Umgang mit Vorlagen - u.a. Stichen des Meisters E.S. - dürften auch die Figuren des
Hl. Georg und der Muttergottes im Strahlenkranz entwickelt worden sein (s.u. Nr. 183E).
Im hier diskutierten Zusammenhang ist die Figur des Hl. Georg aber nicht nur aus kompositorischen Gründen von
Interesse, sondern auch wegen eines Flickstücks in ihrem Damast-Hintergrund, das schon Hans Wentzel aufgefal-
len war: jenes einzelne blaue Stück, das von der U-förmigen roten Schlaufe unter dem rechten Oberarm des Heiligen
umschlossen wird (Fig. 143). Wentzel erkannte in ihm ein »Reststück« des Damastmusters aus der Chorverglasung
der Stadtkirche in Langenburg (1499; Textabb. 32E)33. Da das Stück nachweislich lange vor der Restaurierung der
Neckarsteinacher Scheiben durch Otto Linnemann an Ort und Stelle eingesetzt war (Fig. 140)34, muss es sich um eine
ältere Reparaturmaßnahme handeln, bei der die ausführende Werkstatt auf Scherben zurückgreifen konnte, die sie
entweder in Neckarsteinach vorfand - z.B. bei der im Jahr 1863 erfolgten Zusammenführung der Scheiben im Chor
- oder die sie selbst besaß. In letzterem Fall wäre - wie bei der Christophorus-Scheibe in Langenburg (s. S. 148L) - am
ehesten eine mittelalterliche Reparatur zu erwägen, die dann jener zuerst von Wentzel identifizierten, von Rüdiger
Becksmann (1979, 1986) genauer charakterisierten Werkstatt Hans Kambergers in Heidelberg zugeschrieben werden
müsste; andernfalls hätte es in Neckarsteinach wenigstens eine zu unbekannter Zeit entstandene, verlorene Scheibe
mit einem Damastmuster aus der Kamberger-Werkstatt gegeben. Doch wann und wie auch immer jenes Flickstück in
die Scheibe mit der Figur des Hl. Georg gelangt sein mag, mit ihm rückt Heidelberg als dasjenige Kunstzentrum in den
Blick, in dem die Farbverglasung der Neckarsteinacher Pfarrkirche um 1482/83 entstanden sein dürfte.
Blicker XIV. Landschad, der Bauherr, war - wie auch Otto von Hirschhorn - eng mit dem Hof Philipps des Aufrich-
tigen verbunden35, der Kurfürst selbst trat im Chor als Fensterstifter auf. Von der geografischen Nähe des Städtchens
zu Heidelberg einmal abgesehen, spricht also auch aus historischen Gründen einiges dafür, dass die Werkstatt, in der
die Scheiben gearbeitet worden sind, in der Residenz- und Universitätsstadt ansässig war, wo sich im späten 15. Jahr-
hundert ein glänzendes kulturelles Leben entfaltet hatte (s. Kunstgeschichtliche Einleitung S. 66-68). Nach den bisher
bekannten Quellen zur Kunstgeschichte Heidelbergs kann es sich dabei eigentlich nur um jene Werkstatt gehandelt
haben, die Jakob Gleser geführt zu haben scheint, bevor sie von seinem Sohn Hans übernommen wurde36. Dieser im

3* Zur Straßburger Werkstattgemeinschaft s. zuletzt den Überblick
von Scholz 1995.
3- Die aus zwei Kielbögen bestehende Bekrönung über dem Stifter-
paar Hirschhorn/Handschuhsheim (Fig. 142) zeigt eine enge formale
Verwandtschaft mit der Bekrönung über der Verkündigung an Maria
im Achsenfenster der Stiftskirche in Tübingen (Chor I, 9/ioc/d, um
1478; CVMA Deutschland 1,2, 1986, Abb. 365), wobei die Verschlei-
fung und Durchdringung architektonischer und vegetabiler Formen
besonders hervorzuheben ist. Letzteres ist in gleicher Weise für das
Kramerfenster im Ulmer Münster charakteristisch (Chor n II, um
1480/81; CVMA Deutschland I,j, 1994, Abb. 61). Die Langhausver-
glasung der Pfarr- und Wallfahrtskirche in Lautenbach ist als allge-
meines Vergleichsbeispiel für das Schema von Heiligen und Stiftern in
mehr oder weniger aufwändigen Architekturrahmungen anzuführen
(CVMA Deutschland II,1, 1979, bes. Abb. 229k, 233).
33 Wentzel 1966, S. 29. Vgl. CVMA Deutschland 1,2, 1986, S. XIX,
Muster 1,45, und Abb. 138!., 142-145.
34 Dies ist zu betonen, weil es im Scherbenfundus des Hessischen
Landesmuseums Darmstadt, auf den Linnemann zurückgreifenkonnte,
Reste desselben Damastmusters gab; s.o. S. 151, Anm. 46. Aber auch
bei der Restaurierung 1911 durch die Werkstatt Meysen & Beck,

Heidelberg, war es schon vorhanden.
33 Vgl. hierzu bereits S. 210 mit Anm. 18 sowie S. 217, Nr. 181.
36 Hierzu und zum Folgenden: Rott, III,i, 1936, S. 47, und III,3,
1938, S. 16 mit Anm. 6; Wentzel 1966, S. 28k mit Anm. 29; Seeliger-
Zeiss 1967, S. 126, 197, Nr. 40; Becksmann 1979, S. LXf., und 1986,
S. LVIIf.; zuletzt Hubach 2002, S. 47-49.
37 Becksmann 1979, S. LX.
38 LMA, VI, 1993, Sp. 2072k (Meinrad Schaab); NDB, XX, 2001,
S. 382k (Peter Fuchs).
39 Zum Porträtcharakter der Darstellung s. Hubach 2000 (s. Bibi.),
S. 354 (Nr. 245), der betont, dass der »Anspruch physiognomischer
Genauigkeit« durch das »zeittypische Idealbild des Herrschers als hö-
fischer Jüngling« ersetzt wurde. Im Vergleich mit dem Bildnis Kurfürst
Philipps in der Hs. Die Kinder von Limburg (Heidelberg, Universi-
tätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 87, fol. 6*v) wirkt die Stifterdarstellung
aus Neckarsteinach dennoch herber, sodass Porträtabsichten vielleicht
nicht vollständig auszuschließen sind. Die erwähnte Hs. ist jüngst be-
arbeitet worden in: Zimmermann 2003, S. 216-218 (Sonja Glauch/
Matthias Miller).
40 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 13428, fol. 8v;
AK Heidelberg 2000, S. 300k, Nr. 169 (Wolfgang Metzger).
 
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