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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 23.1907-1908

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Schur, Ernst: Van Goghs Briefe
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https://doi.org/10.11588/diglit.12504#0617

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-a-4^> VAN GOGHS BRIEFE <^^~

können) — diese Fülle von Liebe, diese Größe Jawohl, das sind Helden. Das Bewußtsein,
des Menschlichen! Ein Künstler, der noch daß es solche Künstlermenschen unter uns
Talent und Menschlichkeit beinahe primitiv gab, erhebt, tröstet, bereichert, macht jubeln,
vereint. Als ihn schon die Nacht überschattet, Und ein solches Buch führt besser in die
denkt er noch sorgend an seinen Freund Gau- moderne Kunst und ihre Probleme ein, als
guin, der im Elend verkommt, den er wieder hundert gründliche und noch so gelehrte Aus-
freudig machen will. Dieses Strömend-Reiche, einandersetzungen. Leben und Kunst ist hier
das sich in den Briefen mit so herrlicher an der Quelle. Und wir erleben das beglückende
Schönheit enthüllt. „Mein lieber Meister", Schauspiel, daß die Kunst in uns auch noch
so schreibt er an Gauguin, der das Zusammen- zu unserer Zeit Wunder wirkt. Denn das
leben mit ihm aufgeben muß, da ein Wahn- Ringen um die Kunst hat das Leben des un-
sinnsanfall ausbrach, „es ist würdiger, nach- glücklich-glücklichen Mannes so verklärt, daß
dem ich Sie gekannt und gekränkt habe, bei es unnötig ist, über sein Schicksal zu klagen,
voller Geistesklarheit, als in einem entwürdi- Dieses Schicksal ist ja für die Echten und
genden Zustand zu sterben." Er erschoß sich Großen nichts Seltenes. Das Große und Schöne
und starb mit der Ruhe eines Helden. aber ist, daß sie selbst noch die Kraft haben,

alles Leid, das über sie hereinbricht, für
die Nachkommenden in Glück zu ver-
wandeln. Sie sind Ueberwinder, und
Schicksal und Unglück kommen nicht
gegen das Lebendige an, das in ihnen
wirkt. So schreiten sie noch, gefaßt und
heiter, dem Dunkel zu, das ihrer harrt. ...

Wer Künstler ist, sollte das Buch lesen;
es führt vom Alltag hinweg. Wer Kunst
liebt, der sollte es lesen, es gibt Offen-
barungen. Und alle die, denen Mensch-
sein mehr bedeutet, als Beruf und Geld-
erwerb, sollten es lesen. Es reißt aus
den Kreisen der Enge heraus und stellt
mitten hinein in die Unendlichkeit. Alles,
was fremd ist, ist in diesem leidenschaft-
lichen Feuer ausgeglüht. Um so strah-
lender leuchtet das Eine, das Bleibende:
das Ringen eines Menschen, der sich
strebend vollendet.

GEDANKEN ÜBER KUNST

Die ganze Aufgabe des Künstlers in der
Welt ist, ein sehnendes und fühlendes Geschöpf
zu sein; ein Werkzeug von solcher Zartheit
und Empfindsamkeit, daß kein Schatten, keine
Farbe, keine Linie, kein augenblicklicher,
schwindender Ausdruck der ihn umgebenden
sichtbaren Dinge, auch keine Gemütsbewegung,
die sie dem ihm verliehenen Geiste mitzuteilen
vermögen, uneingeschrieben bleibt oder in dem
Buch seiner Erinnerung verlöscht. Es ist nicht
seine Sache, zu denken, zu urteilen, zu be-
weisen und zu wissen. Sein Platz ist weder
im Kabinett, noch auf der Gerichtsbank, noch
vor den Gerichtsschranken, noch in der Biblio-
thek. Alles das ist anderen Menschen und an-
derer Arbeit bestimmt. Er mag nachdenken,
nebenbei; nun und dann Schlüsse ziehen, wenn
er nichts Besseres zu tun hat; er mag wissen,
— die Bruchstücke, die er ohne Bücken sam-
meln, ohne Mühe erreichen kann; aber dem
allen soll seine Sorge nicht gelten. Seine Le-
PAUL JOANOWITSCH BILDNIS DER FRAU EDITH KANN bensarbeit soll nur eine zweifache sein: sehen,
Münchner Jahresausstellung 1908 empfinden. Ruskin

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