Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 22.1924

DOI Heft:
Heft 8
DOI Artikel:
Diderot, Denis; Pieper, Kurt [Übers.]: Vereinzelte Gedanken über die Malerei, Bildhauerkunst, Baukunst und Dichtung: als Anhang zu den Salons
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.4654#0229

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
geschadet als genützt haben. Man verstehe mich
recht: sie haben dem Durchschnittskünstler genützt
und dem Genie geschadet.

Ein antiker Maler hat gesagt, daß es angenehmer
wäre, zu malen, als gemalt zu haben. Eine neuere
Tatsache bekräftigt dies: die Handlungsweise eines
Künstlers, der einem Dieb ein fertiges Gemälde
überläßt und eine Skizze behält.

Der Kopf eines Menschen auf dem Körper
eines Pferdes gefällt uns, aber der Kopf eines Pfer-
des auf dem Körper eines Menschen mißfällt uns.
Es ist eine Sache des Geschmackes, Monstrosi-
täten zu schaffen. Ich werde mich vielleicht in
die Arme einer Sirene stürzen; aber wenn der
Teil, der Weib ist, Fisch wäre, und der, der Fisch
ist, Weib wäre, so würde ich meine Blicke ab-
wenden.

Seid schrecklich, ich bin damit einverstanden;
aber das Entsetzen, das ihr mir einflößt, sei ge-
mildert durch irgend eine große moralische Idee.

Wenn alle unsere Märtyrergemälde, die unsere
großen Meister so hervorragend gemalt haben, auf
eine ferne Nachwelt kämen, wofür würde man
uns halten? Für wilde Tiere oder Menschenfresser.

Welche Stelle der Natur ihr auch erblickt, ob
sie wild oder kultiviert, arm oder reich, öde oder
bevölkert ist, ihr werdet dort immer zwei bezau-
bernde Eigenschaften finden: Wahrheit und Har-
monie.

Die Allegorie, die selten erhaben ist, ist fast
immer kalt und dunkel.

Ich wünschte, der Gewissensbiß hätte ein Sym-
bol und dieses würde in allen Ateliers angebracht.

Die Genremalerei ist nicht ohne Enthusiasmus,
und es gibt zwei Arten von Enthusiasmus: den
Enthusiasmus der Seele und den des Handwerkes.
Ohne den einen ist die Auffassung kalt, ohne den
anderen ist die Ausführung schwach; nur ihre Ver-
einigung macht das Werk erhaben. Der große
Landschaftsmaler hat seinen besonderen Enthusias-
mus, eine Art heiligen Schauder. Seine Grotten
sind schattenreich und tief, seine steilen Felsen
bedrohen den Himmel, die Bäche stürzen donnernd
hinab und brechen auf weithin das erhabene Schwei-
gen seiner Wälder. Der Mensch schreitet zwischen
der Wohnung der Götter und der Dämonen hin-

durch. Dorthin hat der Liebende seine Geliebte
entführt, dort wird sein Seufzer nur von ihr er-
hört. Dort vergräbt sich der Philosoph, sitzend
oder langsam auf und ab wandelnd, in sich selbst.
Wenn ich meinen Blick auf diese geheimnisvolle
Nachahmung der Natur werfe, so erbebe ich.

Wenn der Ruinenmaler mich nicht an die Un-
beständigkeit des Lebens und die Eitelkeit mensch-
licher Taten denken läßt, so hat er nur einen un-
förmlichen Steinhaufen gemalt.

Jedes rühmenswerte Bild ist in allem und überall
in Übereinstimmung mit der Natur; ich muß sagen
können: „Ich habe diese Erscheinung nicht ge-
sehen, aber sie existiert".

Kennen Sie das herrliche Bild Raffaels, auf
dem die Hand der Jungfrau den Schleier hebt,
der das Jesuskind bedeckt und es dem neben ihr
knienden kleinen St. Johannes zur Anbetung ent-
hüllt? Ich sagte zu einer Frau aus dem Volke:

„Wie gefällt Ihnen das Bild?"

„Sehr schlecht."

„Warum sehr schlecht? Es ist ein Raffael."
„Schön, aber Ihr Raffael ist ein Esel."
„Warum bitte?"

„Diese Frau da ist doch die heilige Jungfrau?"

„Jawohl, und das ist das Jesuskind."

„Das ist klar. Und das andere Kind dort?"

„Das ist der heilige Johannes."

„Das stimmt auch. Für wie alt halten Sie das
Jesuskind?"

„Für fünfzehn bis achtzehn Monate alt."

„Und den heiligen Johannes?"

„Für vier bis fünf Jahre."

„Na also," fügte die Frau hinzu, „die Mütter
waren doch zur gleichen Zeit schwangerI"

Ich erfinde hier keine Erzählung, sondern ich
berichte eine Tatsache. Eine andere Tatsache ist,
daß mir das Bild darum nicht weniger schön
erschien.

Warum paßt sich die Kunst so leicht Fabel-
dingen trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit an? Aus
dem gleichen Grund, aus dem sich Schauspiele
besser künstlichem Licht als dem Tageslicht an-
passen. Die Kunst und künstliches Licht sind ein
Beginn der Illusion und des Reizes. Nächtliche
Szenen würden auf der Leinwand gewiß wirksamer
als Szenen bei Tageslicht sein, wenn ihre Dar-
stellung ebenso leicht wäre.

215
 
Annotationen