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Bund Deutscher Kunsterzieher [Editor]
Kunst und Jugend — 2.1908

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Heft XII (Dezember 1908)
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https://doi.org/10.11588/diglit.31819#0145

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131

II. Wie weit soll die Entwicklung der objektiven Beobachtung, gegen-
über der von Natur aus vorhandenen subjektiven Auffassung ge-
fördert und betont werden?
Zunächst wohl ist die Entwicklung der objek¬
tiven Seite der zeichnerischen Betätigung erforderlich,
um damit dem Schüler die Wahrhaftigkeit, die Ge¬
wöhnung an die unbedingte Pflicht wahrheitsgetreuer
Wiedergabe des Gesehenen anzuerziehen. Vollkommene
Objektivität ohne jedes Zugeständnis ist jedenfalls bei
der späteren Verwertung zeichnerischer Fertigkeit zu
wissenschaftlichen Zwecken unbedingt zu fordern.
Dies schliesst aber nicht aus, dass im Lehrgang
auch die subjektive Auffassung, d. h. die Persönlichkeit
des Zeichnenden zu ihrem Rechte kommen kann und muss.
Hier besteht volle Analogie auf den Gebieten der
Kunst und der Wissenschaft: auch der wissen¬
schaftlich Arbeitende muss neben seiner objektiv
forschenden Betätigung subjektiv — hier spekulativ —
tätig sein!
Durch eine vorzugsweise Betonung der Objektivität
auf Rechnung der Subjektivität würde hier wie dort ledig-
lich die Produktivität des Einzelindividuums unter¬
bunden oder doch zum mindesten herabgesetzt werden.
Durch ein ausschliesslich obj ektives Arbeiten
werden Wissenschaftler wie Künstler zu Regist-
rier maschine n.

Abbildung 13.


Auf den Gebieten der Naturwissenschaften hat gerade die subjektive Tätigkeit zu
den grössten Errungenschaften geführt: nämlich zur Entwicklung und Vertiefung der phy-
siologischen und damit der biologischen Seite unserer
naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Sie erst hat unter der
Führung genialer Geister das Problem der Bewegung und
damit des Lebens in den Mittelpunkt der wissenschaft-
lichen Forschung gestellt.
Das Gleiche gilt von den graphischen Künsten und
damit zunächst vom Zeichnen. Mit der Ausschaltung der
subjektiven Betätigung würde das belebende Moment aus
dem Zeichenunterricht verbannt werden.
Wie erst die subjektive Behandlung in Wort und
Schrift di e Empfindungen auszulösen vermag, die man als
die „Musik der Sprache“ bezeichnen könnte — wie diese
erst durch die subjektive Behandlung zur Kunst wird —,
so auch die schaffende Betätigung, die ich vorhin als
zeichnerische Fertigkeit bezeichnet habe.

Abbildung 14.


Abbildung 15.

eine Lupe und ein Stift! Nie hätte ich gedacht, dass diese treuen Lebensgefährten eines
Tages aus ihrem stillen Versteck in der Tiefe der Westentasche hervortreten würden an die

Der erste Teil des Zeichenunterrichts muss nach dem Gesagten dazu dienen und führen,
den Schüler objektiv auf eigene Füsse zu stellen, ihn hinsichtlich der Auffassung des mit
dem Auge Gesehenen und mit dem Griffel Wiedergegebenen
von sich selbst unabhängig zu machen — das ist
die Forderung, die die Naturwissenschaften an einen ihren
Zwecken dienenden Zeichenunterricht stellen müssen. —
Nach dieser Vorschule künstlerischer Selbstzucht
durch objektives Zeichnen muss der Schüler aber unbedingt
in die Natur hineingestellt werden, muss lernen, mit
seinem Objekt zu leben!
Es muss Sache und Aufgabe eines wissenschaftlich¬
künstlerischen Zeichenunterrichts sein, aber auch bleiben,
die Subjektivität des einzelnen Schülers nicht zum
Nachteil der objektiven Wahrhaftigkeit ins wuchernde Kraut
ungezügelter Phantasie schiessen zu lassen; andererseits
aber auch mit den Keimen subjektiven Empfindens durch
pedantisches Festhalten am Objektiven nicht die Persön¬
lichkeit und damit die Freude am Schaffen zu ersticken. —
Das ist die zeichnerische Vorbereitung, mit der aus-
gerüstet, wir unsere jungen Adepten bei uns einziehen sehen
möchten!
Seit meinen ersten Jugendjahren haben mich zwei
kleine Gegenstände auf meinem Lebenswege in der Heimat,
wie in der Ferne begleitet und haben mich, wie ich auch
an dieser Stelle behaupten darf, nie verlassen, so dass sie
heute geradezu einen Teil meines eigenen Ichs bilden:
 
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