Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 2.1912-1913

DOI article:
Lionardo
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.21776#0632

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
LIONARDO

„Reiche Gaben sehen wir oft von der Natur
mit Hilfe der himmlischen Einflüsse über menschliche
Geschöpfe ausgegossen, bisweilen aber vereinigt
sich wie ein überschwängliches und übernatürliches
Geschenk in einem einzigen Körper Schönheit,
Liebenswürdigkeit und Kunstgeschick so herrlich,
daß jede seiner Handlungen göttlich erscheint, alle
andern Sterblichen hinter ihm zurückbleiben und
sich deutlich offenbart: Was er leiste, sei von
Gott gespendet, nicht aber durch menschliche Kunst
errungen. Dies erkannte man bei Lionardo da
Vinci. Sein Körper war mit nie genugsam ge-
priesener Schönheit geschmückt, er zeigte in allen
seinen Handlungen die größte Anmut und besaß
ein so vollkommenes Kunstvermögen, daß, wohin
sein Geist sich wandte, er das Schwierigste mit
Leichtigkeit löste. Seltene Kraft verband sich in
ihm mit Gewandtheit. Sein Mut und seine
Kühnheit waren erhaben und groß, und der Ruf
seines Namens verbreitete sich so weit, daß er
nicht nur von der Mitwelt, sondern noch vielmehr
von der Nachwelt gepriesen wurde."

Was der Zeitgenosse Vasari hier über den
Großen, der von seiner Studienstadt, Florenz,
1483 nach Mailand kam, lapidar und anmutig
zugleich sagte, war das Urteil aller bis heute und
wahrscheinlich für jede Zukunft. Denn die höchste
denkbare Individualität war aufgestanden, der

Künstler schlechthin, die Inkarnation des Ge-
setzes und der Tat — der Wahrheit und Schön-
heit zugleich war erschienen. Ein großer Augen-
blick für die Menschheit war es, als der Sohn
des simplen Ser Piero geboren wurde. Natur
schien in ihm über ihre eigenen Grenzen hinaus-
gekommen zu sein. Niemals gab es einen
Wissensdurstigeren, der immer wieder das schwei-
gende Saisbild zu entschleiern versuchte, selten
einen in sich so beschlossenen und vollendeten
Menschen, der mit der Unendlichkeit seiner Gaben
neue Unendlichkeiten weckte, kaum je einen, der
ein strengerer Prediger und Priester und demuts-
vollerer Diener der Künste gewesen. Es gibt für
ihn kein Ding, das ohne Beziehung für ihn wäre,
er sieht im Einen das All und das All im Einen.
Die feste Bewahrung des Geisterzeugten ist ihm
der eigentliche Sinn des Lebens. Immer läuft
sein Ziel darauf hinaus, jede spürbare Kraft in
sich zur Evolution zu zwingen. Darum preist er
unermüdlich die Arbeit als den höchsten Zweck,
den Fleiß als das beste Mittel zum Können,
darum grübelt er überall die technischen Zu-
sammenhänge der Dinge auf. Daß sich in der un-
geheuren Vielzahl der Erscheinungen, denen sein
ganzes Leben lang sein Interesse galt, ihm stets
aufs neue Gott — Natur offenbare, hielt er für
den ersten und letzten Gewinn. Der Universalis-

BOGENSCHUETZEN. OELGEMAELDE

534

HERMANN FROBENIUS-MUENCHEN
 
Annotationen