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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 2.1912-1913

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Behl, Carl F. W.: Die Dichtung und die bildende Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.21776#0833

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DIE DICHTUNG UND DIE BILDENDE KUNST

Stecher Stock in der Dachstubenwohnung des
silbernen Bären hingegeben war. Wir wissen,
daß Goethe bei Friedrich Oeser im Zeichnen
und Malen sich ausbilden ließ, und jedem Be-
sucher des Goethemuseums in Weimar werden
feine und in sicheren Strichen hingeworfene
Zeichnungen des Meisters gezeigt, der mit dem
Stift so manche Impression seiner italienischen
Reise festgebannt hat. In Straßburg unternahm
Goethe die waghalsigsten Kletterversuche auf
dem Münster, dessen leidenschaftlich bewun-
derte reine Gotik er in allen Einzelheiten zu
studieren beflissen war. Er übte hier seinen
Blick mit großer Ausdauer, fing an, Teile des
Münsters zu zeichnen, und vertiefte sich schließ-
lich in das Problem des Turmes. In seiner
begeisterten Schrift „Von deutscher Baukunst
Erwin von Steinbachs" legte er dann Zeugnis
ab von dem überwältigenden Eindruck, den
dieses Wunderwerk der Architektur auf ihn ge-
macht hatte. Die stolz gen Himmel strebende,
alles Gefühl des Überladenseins besiegende
Gotik wurde ihm zum höchsten Ausdruck der
deutschen Kunst. Und ist es kaum ein äußerer
Zufall, daß derselbe Goethe bald der Dichter
des „Götz von Berlichingen" wurde, dieses echt
gotischen Stückes, in dem zum ersten Male
Massen künstlerisch gebändigt und eine Über-
fülle von Einzelheiten glückhaft zusammenge-
drängt wurde.

Sehr bezeichnend ist es auch für den jungen
Goethe, daß ihn die Niederländer, auf die
Lessing im „Laokoon" manchmal mißfällige
Seitenblicke richtete, innerlich am meisten be-
wegten; daß bei seinem ersten Besuche in der
Dresdener Galerie nur ihre Kunst ihm wirklich
zum Erlebnis geworden war, während er die

SILBERDOSE THEODOR WENDE-DARMSTADT

SILBEROEFAESS THEODOR WEN DE-DARMSTADT

Italiener kalt und ohne tiefere Anteilnahme be-
trachtete. Erst die „italienische Reise" schenkte
ihm die einfache, adelige Linie, die marmorne
Klarheit seiner „Iphigenie", um deren vollendete
Gestaltung er zuvor in zwei Versuchen ver-
geblich gerungen hatte. So steht bei Goethe
während seines ganzen Lebens dichterische
Produktion in unmittelbarem Zusammenhange
mit Eindrücken der bildenden Kunst. Bei ihm
wie bei Hauptmann bestätigt sich die Erfahrung,
daß jeder große Dramatiker etwas vom Bildner
in sich hat.

Das feine Empfinden, das Goethe für Bild-
werke besaß und das er oft in Worte prägte,
gemahnt zugleich an eine keineswegs über-
raschende Erscheinung unserer Zeit: an die
ausgezeichneten und tiefschürfenden Betrach-
tungen, die wir von Dichtern über Werke der
bildenden Kunst besitzen. Seltsamerweise sind
es Lyriker, denen wir solche Schriften ver-
danken. Das mutet zunächst befremdlich an,
da gerade die Lyrik von der bildenden Kunst
am weitesten sich entfernt, In Wirklichkeit ist
indessen der Lyriker am wenigsten versucht,

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