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Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0011

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Zur Einführung

a) Leitfäden des Forschungsprojektes
Ein Esel, so erzählt eine Fabel des Hugo von Trimberg um 1300, habe einst das Fell
eines Löwen entdeckt. Indem er es überzog, glaubte er fortan, das Leben eines
Herrn unter den Tieren des Waldes führen zu können. Sein verändertes Aussehen
versetzte ihn in die Lage, die anderen Tiere kreuz und quer durchs Gehölz zu het-
zen. Doch konnte die Maskerade nicht lange Bestand haben, denn, so Hugo, »die
langen Ören / Meldeten den tören / Dui sack man oben uz ragen«. So wurde der Betrüger
rasch wieder als der Esel erkannt, der er nun einmal war und bleiben mußte. »Du
mäht wol tumme Hute / Betriegen in fremder hiute. / Swer aber dich erkennet, / Esel er dich
nennet!«, tadelte ihn sein Besitzer1.
Die Fabel vom maskierten Langohr verweist auf das starre Korsett aus Kleider-
konventionen, das die mittelalterliche Gesellschaft vermeintlich eng umschloß. Das
Gewand sollte als Symbol sozialer Konvenienz dienen, das eine sichere Verortung
im Koordinatensystem legitimer Lebensordnung gestattete. Ein Entkommen aus
diesem Normengefüge, so jedenfalls postulierten es zeitgenössische Standesdidak-
tiker und ihre modernen Adepten, sei nahezu unmöglich. Das Exempel Hugos von
Trimberg jedoch bricht bezeichnender weise zunächst insofern mit diesem Erzähl-
modus, als es mit der komplementären Grundfunktion mittelalterlicher Kleidung zu
spielen versteht: Indem das Gewand vor aller Augen auf die Zugehörigkeit zu Stand,
Alter, Geschlecht und Gruppe verwies, schuf es zugleich Distanz zu anderen sozi-
alen Formationen. Als signihkantes Unterscheidungsmerkmal konnte das Kleid für
seinen Träger somit zum Emblem persönlicher Auszeichnung avancieren. Das
äußere Erscheinungsbild fungierte stets als Anzeiger kollektiver Ordnung und indi-
vidueller Zuordnung gleichermaßen. Der eigensinnige Esel konnte auf diese Weise
wenigstens vorübergehend seine Position innerhalb der bestehenden Hierarchien
neu bestimmen, sich zum allseits gefürchteten König im Tierreich aufschwingen.
Diese scheinbar paradoxe Doppelfunktion von Einordnung und Abhebung
bildet den Bezugsrahmen eines analytischen Vorstoßes in die Kleider weit des Mit-
telalters. Im Spannungsfeld von sozialer Egalisierung und individueller Distink-
tion soll nach den sozialen Spielräumen und Wirkungsweisen der Kleiderwahl
gefragt werden. Die Untersuchung bricht an diesem Punkt bewußt mit sozialevo-
lutionistischen Deutungsparadigmen, die der Vormoderne zumeist den Charakter
einer statisch verharrenden Ständegesellschaft zuschreiben. Wo im Kontrast zur
heutigen Zeit eine durchwegs stratifizierte Sozialwelt evoziert wird, bevölkert von
gesichtslosen Repräsentanten typisierter Persönlichkeitsmuster, vermag der Blick
auf die Bekleidungspraxis neue Perspektiven zu eröffnen. Nicht allein als Resultat
sozial obligater Statuszuweisung betrachtet, sondern ebenso als dynamisches
Mittel eigensinniger Selbstverortung ernst genommen, gestattet das Phänomen
>Kleidung< veränderte Einsichten in das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft
einer vergangenen Epoche.
1 Hugo von Trimberg, Der Renner, hrsg. von Gustav Ehrismann, 4 Bde., Tübingen 1908-11, Bd. 1,
V. 7471ff„ 7481ff.
 
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