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Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0288

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Ausblick: Asynchrone Vergleichsperspektiven

Die zu Beginn dieser Untersuchung aufgeworfene Frage, ob die Kleiderwahl mittel-
alterlicher Menschen auf der Grundlage statisch zugeschriebener Identitäten einem
sozialen Determinismus folgte, wurde hier weithin negativ beantwortet. Die texti-
len Hüllen des Selbst erschienen im Licht zeitgenössischer Zeugnisse sowohl der
persönlichen Reflexion als auch der flexiblen Nuancierung und Neugestaltung
zugänglich. Ein mittelalterlicher >Möglichkeitssinn< kann auf Grundlage dieser
Befunde ebenso konstatiert werden wie die gesellschaftlichen Spielräume seiner
Entfaltung. Der Blick auf den Überlieferungshorizont hat indes im Kontext von
Norm, Konvention und Habitus nahezu permanent auch die Grenzen der Wahl-
freiheit her vor treten lassen.
Gerade weil das Phänomen der Kleidung individuell wie gesellschaftlich
betrachtet zum Problem werden konnte, hat es die Aufmerksamkeit mittelalterli-
cher Autoren in solch überreichem Maße auf sich gezogen. Inwieweit sich aus die-
sen zeitgenössischen Äußerungen ein spezifisch >mittelalterliches<, von der moder-
nen Bekleidungspraxis abweichendes Profil ablesen läßt, wäre Gegenstand einer
weiterführenden Analyse. Statt eines symmetrisch angelegten, systematisch fort-
schreitenden Vergleichs sollen zum Abschluß dieser Untersuchung nur einige
Impressionen und Detailbeobachtungen zusammen getragen werden. Diese essay-
istischen Gedankensplitter mag der Leser aus seiner jeweils eigenen Gegenwarts-
erfahrung um zusätzliche Eindrücke angereichert zu einem größeren Gesamtbild
zusammenfügen.
Weit entfernt von postmoderner Beliebigkeit muß die Kleiderwahl heute nach
wie vor als kollektiv geprägtes Phänomen betrachtet werden. Bei allem Streben
nach Authentizität im Erscheinungsbild ist der Konformitätsdruck in der sozialen
Interaktion kaum zu ignorieren: Der Zwang zur Anpassung wird bei sogenannten
gesellschaftlichen Ereignissen unmittelbar faßbar, »wenn zum Beispiel (...) alle
leger gekleidet sind und nur ein Party-Gast abendlich elegant erscheint. Das
Meinungsverhältnis ändert sich, wenn nur ein zweiter Gast (...) abendlich elegant
gekleidet ist, und wird kaum mehr eine Rolle spielen, wenn drei oder vier (...)
abendlich elegant auf treten«1. Mit der Akzeptanz der Gruppe wird zugleich das
individuelle Wohlbefinden und Zugehörigkeitsbewußtsein, mithin die Identität
des Menschen, entscheidend verändert. Ein solcher Mechanismus muß gerade dort
besonders wirksam werden, wo eine Person und ihre textilen Hüllen im Zentrum
der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen. Die Bühne der Politik bietet sich im Rah-
men dieser Studie als vielversprechendes, mithin mit Blick auf die Überlieferungs-
lage des Mittelalters als nahezu einzig ergiebiges Vergleichsfeld an. Dabei läßt sich
die soziale Einengung des ohnehin schmalen Korridors der Konventionen auch
hier an vielfachen Beispielen illustrieren. Erinnert sei etwa an den Bundestags-
wahlkampf des Jahres 20022. Der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder und
1 Loschek, Mode, S. 117.
2 Vgl. dazuWERNER Dieball, Körpersprache und Kommunikation im Bundestagswahlkampf.
Gerhard Schröder versus Edmund Stoiber, Berlin/München 2005. Weitere instruktive Beobach-
tungen tragen zusammen: Karl-Otto Albrecht, Mode und Politik, Norderstedt 2001; Kleider
 
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