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Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0076

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Ein Narr, wer in der Mode nur die Mode sieht!
Honoré de Balzac, Physiologie des eleganten Lebens

3. Macht und Machbarkeit:
Die Mechanismen der Mode

a) Eine Geschichte des Tragbaren
Als das Heer Kaiser Friedrichs II. vor den Toren Mailands stand, so erzählt das Buch
der hundert Novellen am Ende des 13. Jahrhunderts, da flog einer seiner Jagdfalken
über die Mauern in die Stadt. Der Staufer habe daraufhin durch Boten die Rückgabe
des kostbaren Tieres erbeten. Obgleich der gesamte Stadtrat dem Ansinnen zunächst
zustimmte, erhielt der Kaiser letztendlich einen abschlägigen Bescheid. Die Rede
eines einzelnen Bürgers, so wurde Friedrich hinterbracht, habe die Stimmung zum
Kippen gebracht. »>Was war das für ein Mann?<«, fragte der Kaiser und reagierte
erstaunt, als man ihm das hohe Alter des Dissidenten mitteilte: »>Das kann nicht sein,
daß ein Greis solch schändliche Rede führt (...). Sagt mir, wie war sein Erscheinungsbild und
was trug er für Kleider.< >Herr, er hatte weiße Haare und ein gestreiftes Gewand.< >Dann mag
es wohl sein, denn da sein Kleid gestreift war, muß es ein Narr gewesen sein/«'
Was den Kaiser zunächst stutzig machte, war ein blinder Fleck im Horizont
seines Deutungswissens. Ein mit den Lebensjahren gereifter, würdiger Greis, der
seinem höfischen Anliegen widersprach, wollte sich nicht in seine Vorstellung von
der >Lesbarkeit der Welt< fügen. Erst das Zeichen der Kleidung brachte die ersehnte
Aufklärung: Es ermöglichte eine Neuinterpretation des Geschehens, indem es den
Stimmungsmacher und damit die gesamte Mailänder Bürgerschaft als schlichtweg
dement klassifizierte. In der Perspektive des Erzählers und seines Florentiner
Publikums stieß diese Interpretation sicherlich auf heitere Zustimmung, wenn
auch mit ganz eigenen Konnotationen versehen. Für sie lag der Hauptakzent nicht
auf der Jagdleidenschaft oder Machtentfaltung des Kaisers, die Anekdote beinhal-
tete vielmehr eine deutliche Kritik an der Mailänder Kleidermode an der Wende
zum 14. Jahrhundert1 2. Wer sich die Unsitte gestreifter Stoffe zu eigen mache, so die

1 II Novellino, hrsg. von Guido Favati, Genua 1970, c. 22, S. 129: >Ciò non può essen« disse lo 'mpera-
dore, >che uomo vecchio dicesse così grande villania, così ignuda di senno/ >Messer, e pur fue.< >Ditemi<
disse lo mperadore: >di che fazione era, e di che guisa vestito?< >Messere, etti era canuto e vestito di ver-
gato/ >Ben può essere< disse lo mperadore: >dacché egli è vestito di vergato, esser può: eh' egli è uno matto<.
2 Möglicherweise findet sich hier ein Reflex auf eine Modeentwicklung vorangegangener Jahr-
zehnte. Ein frühes Verbot gestreifter Kleider für den Weltklerus verfügte eine Mailänder
Synode 1311, vgl. Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, hrsg. von Johannes Domi-
nicus Mansi, Bd. 2, Paris 1903, S. 480, kurz darauf setzte das Konzil von Lyon in dieser Hinsicht
die Norm für weitere Synodalbeschlüsse, vgl. Louis Trichet, Le Costume du clergé. Ses origines
et son évolution en France d'après les règlements de l'Eglise, Paris 1986, S. 63, 72f., 76f.; Thomas
M. Izbicki, Forbidden colors in the regulation of clerical dress from the Fourth Lateran Council
(1215) to the time of Nicholas of Cusa (d. 1464), in: Medieval clothing and Textiles, hrsg. von
 
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