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Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0022

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22

Zur Einführung

misches Selbstbewußtsein«. Der geschärfte Blick für die Bedeutungsdimension
textiler Arrangements erweist sich für die Frage nach der Selbstverortung mittel-
alterlicher Menschen als konzeptionell folgenreich. Unter der Prämisse historisch
dynamischer, heterogener und machtgesättigter Sinnzuschreibungen kann die
Kleidung des Mittelalters kaum mehr vereinfachend als materielles Substrat einer
dauerhaft stabilen sozialen Beheimatung bewertet werden. Die Frage nach der
Sinngebung der Kleiderwahl läßt Identität nicht als statische Determinante, son-
dern als kulturhistorisch variable Größe erscheinen. Sie ermöglicht auf diese Weise
eine kritische Revision der in der modernen Sozialforschung virulenten These,
Identität sei in der traditionalen Gesellschaft des Mittelalters »als Problem undenk-
bar«41 gewesen.

d) Schnittmuster der Forschungsarbeit
Zu untersuchen wäre folglich, in welcher Weise das Verhältnis zwischen Klei-
dung, Körper und Selbst bereits unter den historischen Bedingungen vormoder-
ner Lebensordnungen in Konzepte gefaßt und mit Bedeutung versehen wurde.
Konnte die Frage >wer bin ich?< im Zusammenhang mit der Kleiderwahl überhaupt
thematisiert und problematisiert werden? Ließ das Netz obrigkeitlicher Normen
und sozialer Konventionen Freiräume für die Visualisierung individueller Gel-
tungsansprüche? Welche Distinktionsstrategien und Praxisformen konnten einer
individuell flexiblen Abstimmung zwischen subjektiver Zuordnung und kollekti-
ver Zuschreibung zugute kommen? Die Analyse mittelalterlicher Kleiderwahl
erfolgt dabei unter zwei komplementären Zentralperspektiven: In einem ersten
Analyseschritt wird die Funktion der Kleidung als Ansatzpunkt konsensualer
wie kontroverser Aushandlungsprozesse über den sozialen Standort einer Person
zu beleuchten sein. Geprüft wird vor der Folie mittelalterlicher Normierungs-
bemühungen und Machtmechanismen die Realisierbarkeit zeittypischer Formen
modischer Distinktion, Devianz und Rollendistanzierung. Darauf aufbauend folgt
ein zweiter Untersuchungsabschnitt der These, daß es gerade die geistlichen und
weltlichen Eliten der mittelalterlichen Gesellschaft waren, die »über sehr viel grö-
ßere Freiheiten in ihrer Selbstrepräsentation und in ihren sozialen Rollenspielen als
Gruppen von niedrigem Status«42 verfügten. Begreift man Identitäten als >Kampf-
feld< um Machtchancen und soziale Ressourcen, so bietet sich das Agieren mittel-
alterlicher Herrschaftsträger auf der politischen Bühne ihrer Zeit als vielver-
sprechendes Untersuchungsfeld an. Exemplarisch soll dabei dokumentiert werden,
in welchem Grad Kleidung als zeichenhafter Ausdruck subjektiver Geltungsan-
sprüche im Schnittpunkt widerstreitender Sinnangebote politisch wirksam wurde.
Ein Nachdenken über den Zusammenhang von zeitgenössischen Bedeutungszu-

41 Thomas Luckmann, Persönliche Identität, Soziale Rolle und Rollendistanz, in: Identität, hrsg.
von Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Poetik und Hermeneutik 8), München 1979, S. 293-313,
S. 294.
42 Valentin Groebner, Identität womit? Die Erzählung vom dicken Holzschnitzer und die Genese
des Personalausweises, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der
vormodernen Gesellschaft, hrsg. von Peter von Moos (Norm und Struktur 23), Köln/Weimar/
Wien 2004, S. 85-97, S. 96.
 
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