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Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0033

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1. Das Selbst und seine Hüllen

33

handele. Deshalb gewinnt das Problem der Anerkennung mit dem Aufkommen
der Idee einer innerlich erzeugten Identität neue Bedeutung«36. Die konstante Inter-
aktion mit dem signifikant Anderen ermöglicht eine Vergewisserung über den
individuellen Standort im Koordinatensystem der leiblichen, sozialen und kultu-
rellen Bedeutungsdimensionen. Dies entspricht der Auffassung George Herbert
Meads von Identität als »einer individuellen Spiegelung der allgemeinen, systema-
tischen Muster des gesellschaftlichen oder Gruppenverhaltens«37.

b) Zwischen Genie und Wahnsinn: Mittelalterlicher Möglichkeitssinn
Soweit Identität als Interaktionsprodukt zu verstehen ist, ergibt sich ein systemati-
scher Zusammenhang zwischen Kleiderwahl und sozialer Verortung. Im Austausch
zwischen Individuum und Gemeinschaft stellte »das Agieren und Reagieren mit-
hilfe signifikanter Gesten und Symbole«38 eine unverzichtbare Grundfunktion dar.
Da sich, wie die zeitgenössischen Exempel nahelegen, »Bestätigung und Infragestel-
lung der Identität auf Kleidung zurückführen«39 lassen, kann das Gewand des
mittelalterlichem Menschen als wirksames Medium intersubjektiver Standortbe-
stimmung begriffen werden. Mead selbst verweist hierbei auf »das physische
Ding«40, das als sichtbare Objektivierung nicht nur der Vergegenständlichung eines
subjektiv vorhandenen Selbstentwurfes dient, sondern den Verhandlungsprozeß
über Identität erst in Gang setzt: Die textilen Hüllen verschoben die leiblichen Gren-
zen des Ichs nach außen und schufen eine Fläche individuell gestaltbarer Mitteilun-
gen an die soziale Umwelt. Im Zeichen der Kleidung manifestierten sich imaginier-
ter Rang und erstrebtes Sozialprestige ebenso wie Garantieversprechen über das
künftige Verhalten ihres Trägers. Hier kulminierten zugleich Erwartungen an die
adäquate Anschlußreaktion der Außenwelt bezüglich Anerkennung oder Ab-
lehnung des Gezeigten. Die ehrerbietige Akzeptanz oder Verleihung von Gewand-
stücken spiegelte die Zuerkennung eines sozialen Status ebenso wider wie die
Schändung, Beschmutzung oder Devestitur dessen ostentative Zurückweisung
markierte. Die eminente Bedeutung, die das Verhältnis von Gewand und sozialem
Ehrerweis für die Konstituierung, Stabilisierung und Hinterfragung mittelalterli-
cher Identitätsentwürfe besaß, vermögen zwei um 1400 verfaßte Novellen aus der
Feder des Giovanni Ser cambi eindrücklich zu dokumentieren:
Reichlich kurios mutet dabei die Erzählung von jenem Kürschner Ganfo aus
Lucca an, der aus Anlaß des Besuchs eines Badehauses beim Anblick der vielen
nackten Leiber von Panik ergriffen ausruft: »Wie nun soll ich mich unter diesen wieder-

36 Ebd. S. 24.
37 George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehavioris-
mus, Frankfurt a.M. 41980, S. 201.
38 Hans-Georg Soeffner, >Typus und Individualität oder >Typen der Individualität? Entdek-
kungsreisen in das Land, in dem man zu Hause ist, in: Typus und Individualität im Mittelalter,
hrsg. von Horst Wenzel, München 1983, S. 11-44, S. 16.
39 Sommer, Soziopsychologie, S. 30.
40 George Herbert Mead, Das physische Ding, in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Frankfurt
a.M. 1987, S. 225-243, vgl. dazu auch Sommer, Soziopsychologie, S. 15f., 21f.
 
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