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Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0181

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2. Die Spielregeln der Identität

181

zurückkehren«117. Wenn eine derartige militärische Intervention auch ausblieb, so
war die Möglichkeit des unfreiwilligen Verlustes der Kleidung in der politischen
Praxis des Mittelalters durchaus präsent.

e) Deformierte Identität: Die Entkleidung des Herrschers
»Entwaffnet und ohne Mantel«, so berichtet sein Biograph Einhard, habe das ent-
setzte Gefolge Karls des Großen ihren Herrn vom nackten Boden aufheben müs-
sen118. Zu verdanken hatte der mächtige Frankenkaiser den Verlust seiner Herr-
schaftsattribute im Jahr 810 einem plötzlichen Sturz vom Pferd. Doch nicht
Ungeschick, vielmehr ein Fingerzeig Gottes hatte den erfahrenen Reiter aus dem
Sattel geworfen und dabei die Fibel seines Mantels zerbrochen. Während eines
Feldzuges gegen den Dänenkönig sei mit einem Mal ein unheimliches Himmels-
licht gleich einer Fackel am Firmament erschienen119. Rätselhafte Naturphänomene,
Unglücksfälle und prophetische Zeichen, so Einhard, hätten sich in jener Zeit
gehäuft und auf das nahende Ende des Kaisers verwiesen.
Doch nicht der lange Arm Gottes allein besaß das Recht, dem Kaiser Waffen-
schmuck und Mantel zu entwinden. Vergleichbares widerfuhr dem Sohn des
Frankenherrschers von gänzlich anderer Hand: »Sie nahmen ihm das Schwert von
seiner Seite und bekleideten ihn nach dem Urteil seiner Untergebenen mit einem Büßer-
gewand«, so berichtet die vom Trierer Chorbischof Thegan verfaßte Biographie
Ludwigs des Frommen120. Erzbischof Ebo von Reims, einem der Hauptakteure der
Herrscherabsetzung, hielt er den offenen Bruch des göttlichen Gebots vor. Indem
er ihn an das Bibelwort >fürchtet Gott, ehret den König< gemahnte, konnte er dem

117 Liudprand, Relatio c. 55, S. 212: Nicephorus (...) qui non pretio sibi gentes amicas, sed terrore et gladio
sibi subditas facit. Atque ut cognoscas, quanti dominos tuos reges habeamus, quae data sunt coloris huius-
modi et quae empta, via eadem ad nos revertentur (Übers. Bauer/Rau, S. 577).
118 Einhard, Vita Karoli Magni, hrsg. von Oswald Holder-Egger, MGH SS rer. Germ. 25, Hannover
1911, c. 32, S. 36: subito equus, quem sedebat, capite deorsum merso decidit eumque tam graviter ad ter-
ram elisit, ut, fibula sagi rupta balteoque gladii dissipato, a festinantibus qui aderant ministris exarmatus
et sine amiculo levaretur.
119 Ebd.: Ipse quoque, cum ultimam in Saxoniam expeditionem contra Godofridum regem Danorum ageret,
quadam die, cum ante exortum solis castris egressus iter agere coepisset, vidit repente delapsam caelitus
cum ingenti lumine facem a dextra in sinistram per serenum aera transcurrere.
120 Thegan, Gesta Hlodowici imperatoris, hrsg. und übers, von Ernst Tremp, MGH rer. Germ. 64,
Hannover 1995, S. 167-277, c. 44, S. 232: Abstulerunt ei gladium afemore suo, iudicio servorum suorum
induentes eum cilicio. Zur Einordnung mit weiteren Literaturhinweisen vgl. Alexander Weihs,
Pietas und Herrschaft. Das Bild Ludwigs des Frommen in den Vitae Hludowici (Theologie 65),
Münster 2004, S. 143ff. Vgl. zum Ereignis Rudolf Schieffer, Von Mailand nach Canossa. Ein
Beitrag zur Geschichte der christlichen Herrscherbuße von Theodosius dem Großen bis zu
Heinrich IV., in: DA 28 (1972), S. 333-370, S. 354ff.; Konrad Bund, Thronsturz und Herrscherab-
setzung im Frühmittelalter (Bonner Historische Forschungen 44), Bonn 1979, S. 401-427; Egon
Boshof, Ludwig der Fromme (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 1996,
S. 195-203; Matthias Becher, >Cum lacrimis et gemitrn. Vom Weinen der Sieger und Besiegten
im frühen und hohen Mittelalter, in: Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im
Mittelalter, hrsg. von Gerd Althoff (Vorträge und Forschungen 51), Stuttgart 2001, S. 25-52, hier
S. 35-38; Thomas Scharff, Öffentliche Schuldbekenntnisse mittelalterlicher Herrscher und ihre
Darstellung in der zeitgenössischen Historiographie, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft
und Linguistik 32 (2002), S. 8-26; Althoff, Die Macht der Rituale, S. 57-64.
 
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