Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0138

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Resümee I: Kleidung als bedingte
Ermöglichungsinstanz

»Kein Mensch scheut sich davor, aufzufallen, anders zu sein und zu scheinen als
die anderen.«1 Mit diesen Worten suchte Jacob Burckhardt 1860 das Erwachen der
Individualität in der italienischen Renaissance des 14. Jahrhunderts sinnfällig zu
illustrieren. Als zentrales Beispiel diente ihm dabei die Vielfalt der Kleidermode im
spätmittelalterlichen Florenz. Ob man indes »mit dem Argument (...) der individuel-
len Mode« das Entstehen »einer >Individualität< im modernen soziologischen Sinne
einer bewußten Einzigartigkeit und gewollten Unterscheidung von anderen«
begründen könne, hat zuletzt der Soziologe Heinz Abels kritisch hinterfragt. Seine
apodiktische Antwort: »Ich meine nein.«2 Für Abels blieb das Selbst-Bewußtsein
mittelalterlicher Menschen »nichts anderes als die Profilierung eines ansonsten
typischen Musters«, verhaftet im »kulturellen Rahmen einer sozial genau definier-
ten Gruppe«3. Zur Begründung bedient er sich unter anderem Burckhardts wirk-
mächtiger Metapher eines »unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder
halbwach« gefangenen Individuums4, beruft sich auf die von Huizinga postulierte
Persönlichkeitswahrnehmung entlang der Kategorien »des Volksliedes und des
Ritterromans«5 und führt schließlich Norbert Elias' Figurationssoziologie und
David Riesmans Theorie einer vormodernen »Traditionslenkung« ins Feld6.
Abels nicht überall treffsicher eingesetzte Argumente zielen insgesamt auf
eine Abgrenzung mittelalterlicher Kollektivpersönlichkeiten vom autonom agie-
renden, >heroischen< Subjekt der Moderne7. Daß dieses souveräne Selbst als Kind
des Deutschen Idealismus längst in die fragmentierenden Mühlen postmoderner

1 Jacob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860, S. 132. Zur
Wirkungsgeschichte in der Mediävistik vgl. u.a. Otto Gerhard Oexle, Konsens - Vertrag - In-
dividuum. Über Formen des Vertragshandelns im Mittelalter, in: Das Individuum und die Sei-
nen. Individualität in der okzidentalen und in der russischen Kultur in Mittelalter und früher
Neuzeit, hrsg. von Yuri L. Bessmertny/Dems. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für
Geschichte 163), Göttingen 2001, S. 15-37, S. 22-26. Burckhardt selbst soll am Ende seines Schaf-
fens mit den Worten »Wisse Sie, mit dem Individualismuus - i glaub ganz nimm i dra; aber i sag
nit; si han gar e Fraid.« an seinem eigenen Konzept gezweifelt haben, vgl. Peter Ganz, Jacob
Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien. Handwerk und Methode, in: Deutsche Viertel-
jahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), 24-59, S. 59.
2 Abels, Identität, S. 36.
3 Ebd. S. 40, 37.
4 Burckhardt, Cultur, S. 131.
5 Johann Huizinga, Der Herbst des Mittelalters, Stuttgart “1969, S. 12.
6 David Riesman, Die einsame Masse. Mit einer Einführung von Helmut Schelsky, Hamburg
1958.
7 Als Beispiel der bisweilen verworrenen Argumentation ist auf seinen Rückgriff auf die Figura-
tionssoziologie nach Norbert Elias zu verweisen. Abels nimmt die Interdependenzen innerhalb
der höfischen Gesellschaft als Beleg dafür, daß die Handlungen des einzelnen »Menschen der
Vormoderne (...) natürlich keine Frage des Wollens, sondern des Müssens« (S. 40) gewesen seien.
Dabei übersieht er grundsätzlich, daß in Elias' Zivilisationstheorie die Moderne gegenüber dem
Mittelalter gerade von der Zunahme an Interdependenz gekennzeichnet war, Individualität
demnach etwa im 19. Jahrhundert inexistent gewesen sein müßte.
 
Annotationen