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Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0131

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5. Die Dispositionen des Habitus:

131

vermochten es die Flüchtlinge nur ungenügend. Umgangsformen und Idiom ihrer
Heimat vor dem prüfenden Blick eines Kenners zu verbergen. Dennoch entging
Richard auch dieses Mal der Verhaftung, indem der in Loyalitätskonflikte gestürzte
Normanne unter Tränen sein Fortkommen gar noch beförderte. Zum finalen Akt
der dramatischen Flucht kam es schließlich kurz vor Wien, als der von Gewaltritten
geschwächte König seinen deutschsprachigen Knappen zum Einkauf auf den örtli-
chen Markt entsandte. Weckten schon die ausländischen Goldmünzen des Frem-
den das argwöhnische Interesse der Einheimischen, so enthüllten die vornehm-
höfischen Umgangsformen des vorgeblichen Knechts vollends seinen wahren Rang
und Stand48. Als der Blick zu allem Überfluß auch noch auf die königlichen Pracht-
handschuhe fiel, die der Knappe unachtsam in seinen Gürtel gesteckt hatte, waren
alle Ausflüchte vergebens49. Richard Löwenherz wurde in seinem Versteck umzin-
gelt und in den Gewahrsam des österreichischen Herzogs überführt.
Die Version des Otto von St.Blasien verkürzt die Ereigniskette auf ein einziges
entscheidendes Moment der Enttarnung. In der Rolle eines einfachen Dienstboten
habe Richard in einer kleinen Herberge in der Nähe Wiens Station gemacht. Wäh-
rend er dort am Feuer mit eigener Hand ein Huhn briet, sei er durch einen ehemali-
gen Kreuzfahrer aus dem Gefolge des Herzogs erkannt worden. Auch hier wird
von einem goldenen Ring berichtet, den der verkleidete Herrscher leichtfertig am
Finger behielt50. Er war der eigentliche Auslöser des Erkennens, indem er im ent-
scheidenden Augenblick die verschüttete Erinnerung an das Gesicht des engli-
schen Königs wachrief51. Ohne ein solches königliches Statussymbol, so ließe sich
daraus folgern, wäre Richard in den Augen seiner Umwelt nichts weiter als ein ein-
facher Koch am Kaminfeuer der Herberge geblieben. Doch die ausführlichen Zeug-
nisse englischer Berichterstatter belegen, daß ihr Herrscher trotz aller Verstellung
nicht aus seiner Haut konnte, sondern stets das blieb, was er ein Leben lang gewe-
sen war: ein König von höchstem Stand und Adel. Konsumverhalten, Umgang mit
Geld und Wertschätzung materieller Güter waren ebenso wie Sprechweise, Um-
gangsformen und Physiognomie ein Ausdruck seiner selbst: »Was der Leib gelernt
hat, das besitzt man nicht als wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man«52.
Erst dort, wo sich die genannten Komponenten zu einem geschlossenen Gesamt-
bild vereinten, vermochte die Kleidung als Medium intersubjektiver Selbstver-
ortung Glaubwürdigkeit zu gewinnen.

48 Ebd. S. 55f.: Puer vero regis ad escambium veniens, cum plure bisantios proferret, nimisque curialiter ac
pompatice se haberet, a civibus illico comprehensus est.
49 Ebd. S. 56: accidit eum semel (...) chirothecas domini regis sub zona secum incautius gestare.
50 Otto von St. Blasien, Chronica, hrsg. von Adolf Hofmeister, MGH SS rer. Germ. 47, Hannover,
Leipzig 1864, c. 38, S. 58: Itaque servili opere, ne agnosceretur, in codione pulmentorum per se dans
operam, altile ligno affixum propria manu vertens assabat, anulum egregium in digito oblitus.
51 Ebd.: Quidam igitur de familia ducis, qui cum duce apud Accaron ens visum inibi regem notum habebat,
de civitate fortuitu egressus tabernam regali coco insignem intravit et ex consideratione anuli ipsum respi-
ciens et recognoscens agnitum dissimulavit.
52 Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987, S. 135.
 
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