Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0039

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Amictus corporis, et risus dentium,
et ingressus hominis enunciant de illo.
Jesus Sirach 19,27

2. Von der Lesbarkeit der Welt

a) Das Kleid als notwendiges Standeszeichen
Ein Predigtexempel des Dominikaners Etienne de Bourbon erzählt von der Erhe-
bung des aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Maurice von Sully zum Bischof
von Paris. Als dessen Mutter die Nachricht von der Amtseinsetzung ihres Sohnes
erhielt, habe sie sich sogleich in die Stadt an der Seine begeben und im Haus eines
wohlhabenden Pariser Bürgers Quartier bezogen. Von diesem sei sie statt des
gewohnt schlichten Kleides in prunkvolle Tuche gehüllt und vor ihren Sprößling
geführt worden. »Diese erkenne ich nicht als meine Mutter«, soll der Geistliche darauf-
hin ausgerufen haben, »weil sie ja adelig, reich und jung erscheint. Ich aber weiß gewiß,
daß ich der Sohn einer ärmlichen Frau war«1. Erst als die Abgewiesene sich der Pracht-
gewänder entledigte und in gewohnter Tracht zurückkehrte, sollte sie von ihrem
Sohn ehrenvoll auf genommen und empfangen werden.
Diese Episode fügt sich auf den ersten Blick nahtlos in die Reihe der bisheri-
gen Exempel zum engen Konnex von Kleiderwechsel und Identitätskrise. Doch
verbindet den Pariser Oberhirten wenig mit den Narren, Rittern und Kaisern des
vorigen Kapitels. Der Ausfall der vertrauten Identitätsmerkmale seiner Mutter
nahm ihm keineswegs die grundsätzliche Fähigkeit zur Identifizierung, er raubte
ihm im Rahmen des didaktischen Lehrstücks allenfalls den Willen hierzu: Damit
entsprach seine Reaktion ganz dem Tenor der übrigen Exempla, die der Domi-
nikaner Etienne de Bourbon in der Mitte des 13. Jahrhunderts unter den Titeln >de
nocumentis pulcritudinis vane< bzw. >de vanu ornatu< zusammengestellt hat.
Gleich zu Beginn rekurriert der Verfasser dabei auf die modische Fassade falscher
Schönheit, die eine unstatthafte Deformation der Schöpfungsnatur bewirke. So
erzählt er von einer steinalten und runzligen Pariser Bürgerin, die in mondäner
Kleidung, mit falschem Haar und prächtigem Kopfputz in einer Prozession
schritt. Als ihr Ehemann ihrer von hinten gewahr wurde, wollte er zunächst die
Schönheit der Unbekannten preisen, blickte dann aber zu seinem Entsetzen in das
faltige Antlitz seiner eigenen Gattin: »Seid ihr nicht jene Dame, die sich in einen
Affen verwandelt hat? Besser ist es, euch zu folgen, als euch zu begegnen. Eine andere
seid ihr von vorne, eine andere von hinten, eine andere eingepackt als ausgewickelt. Mehr

1 Anecdotes historiques, légendes et apologues tirés du recueil inédit d'Etienne de Bourbon, hrsg.
von Albert Lecoy de la Marche, Paris 1877, c. 278, S. 231: Istam matrem meam non recognosco, quia
apparet nobilis, dives et iuvenis; satis ego autem scio, quod fui filius cuiusdam paupercule femine, rusti-
cane et inculte.
 
Annotationen